Kommentar: Politisches Beben

Kommentar: Politisches Beben

Von Marcel Auermann

Wochen, ja Monate der Aggressivität und des Populismus gehen zu Ende. Selten zuvor zeigten sich Wahlkämpfe so roh, so enthemmt, so hasserfüllt. Die Thüringer und Sachsen haben gewählt. Aber Erleichterung bedeutet dieser Fakt keinesfalls. Denn einfach wird es auch künftig nicht in den beiden Ländern – die Lage war, ist und bleibt kompliziert. Weil bisherige politische Gewissheiten ebenso wie die Bindung an Parteien außer Kraft gesetzt wurden, die Parteienlandschaft sich völlig durcheinandergewirbelt zeigt. Aber auch, so ehrlich muss man sein, die Schwäche von CDU , SPD, FDP und Grünen hat die anderen so stark werden lassen. Dass die AfD un d das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) solche Erfolge verzeichnen, obwohl sie oft kaum mehr als Worthülsen anzubieten haben und offen bleibt, wie sie regieren wollen – traurig, aber wahr.

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat in Thüringen mit der AfD eine Partei gewonnen, die der Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem einstuft. Bislang möchte mit ihr keiner zusammenarbeiten – Stichwort: Brandmauer. Dennoch könnten die Politiker um Björn Höcke äußerst unangenehm werden. Sollte die AfD tatsächlich die Sperrminorität, also mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag, erreichen, könnte sie wichtige Entscheidungen und Wahlen blockieren und darüber womöglich eine gewisse Gestaltungsmacht erzwingen: Verfassungsrichter werden beispielsweise mit Zweidrittel-Mehrheit gewählt, der Landtag könnte sich nicht mehr ohne AfD-Beteiligung selbst auflösen.

Das BSW schoss aus dem Stand auf Platz drei und lieferte sich lange ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU, die dann doch als Zweite durchs Ziel ging. Kurios ist, dass das BSW – ähnlich wie die AfD – mit Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg und der damit verbundenen Kriegsangst Stimmung machte und Anklang fand, obwohl über Außenpolitik nicht in den Ländern, sondern im Bund entschieden wird.

Die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP wurden vor allem für ihre Bundespolitik hart abgestraft. Die Migrations-, Messer- und Gewaltdebatte nicht zuletzt nach dem Messeranschlag vor einer Woche in Solingen hat ihnen den Rest gegeben. Aufgrund ihrer Werte nehmen sie inzwischen Nebenrollen ein oder sind lediglich Mehrheitsbeschaffer. Ein schwerer Schlag besonders für Olaf Scholz und die Kanzlerpartei, die vor mehr als anderthalb Jahrhunderten übrigens in Sachsen (Leipzig) gegründet wurde. Die FDP fliegt aus beiden Landtagen und liegt im kaum mehr messbaren Bereich. Was für ein Debakel, was für ein Untergang der Liberalen! Die Grünen gelten als Großstadtpartei, zu abgehoben und zu regulierungswütig.

Schwer lädiert ist auch der bisher einzige Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow, der zwar exzellente Beliebtheitswerte in Thüringen genießt, aber aufgrund der Arbeit seiner Partei in Berlin das Ergebnis im Vergleich zur vergangenen Landtagswahl mehr als halbierte. Die kommenden Wochen werden also heiß in Erfurt. Am Ende könnte ein noch nie dagewesenes Bündnis aus CDU, BSW und SPD stehen. Für die Union ganz sicher ein pikantes Wagnis.

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Erstellt:
1. September 2024, 22:14 Uhr
Aktualisiert:
2. September 2024, 21:58 Uhr

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