Kreativität als Lebenselixier

Julia Matveyeva ist eine Künstlerin und Kunsthistorikerin aus dem ukrainischen Charkiw. Ihr Leben und Schaffen sind reich, auch wenn Krieg und Flucht vieles verändert haben. Die 49-Jährige lebt mit ihren Töchtern in Spiegelberg. In Vorträgen in Murrhardt gibt sie Einblick in ihr Wissen.

Julia Matveyeva arbeitet gerade an einer neuen Ikonenstickerei – eine filigrane Arbeit, bei der gutes Licht und Vergrößerungsgläser helfen.

© Stefan Bossow

Julia Matveyeva arbeitet gerade an einer neuen Ikonenstickerei – eine filigrane Arbeit, bei der gutes Licht und Vergrößerungsgläser helfen.

Von Christine Schick

Spiegelberg/Murrhardt. Zum Gespräch serviert Julia Matveyeva griechischen Bergtee, Orangenscheiben und Apfelstücke. Daneben stehen Schälchen mit Konfitüre und Honig, um dem Obst Süße zu verleihen. Die 49-Jährige macht klar, wie glücklich sie ist, eine Wohnung in Spiegelberg für sich und ihre beiden Töchter Ania (12) und Agnia (15) gefunden zu haben. Nicht ganz verbergen lässt sich außerdem, dass sie ein Augenmensch ist. „Ich habe den allerschönsten Blick von hier auf Spiegelberg.“ Das Küchenfenster wirkt wie ein Bilderrahmen, der das Dorf einfasst. Julia Matveyeva hat einerseits eine breite künstlerische Ausbildung, andererseits hat sie sich im ukrainischen Charkiw mit den Jahren an der Universität ein Spezialgebiet als Expertin für byzantinische Kunst erarbeitet. Dabei schlägt sie die Brücke zwischen Kunst und Kunstgeschichte, kann den analytischen und beschreibenden Blick von außen mit dem der Kunstschaffenden verbinden.

Die Künstlerin wird Mutter

Wenn sie selbst auf ihren Weg schaut, spielt eine weitere Dimension eine Rolle. „Bei meinem Studium an der staatlichen Kunstschule in Charkiw hatte ich sehr viel Freiheit und viele Möglichkeiten“, erzählt sie. Das künstlerische Schaffen bezog sich auf Gemälde, Zeichnungen, Plakatkunst und Skulpturen, aber auch Kostümentwürfe und Masken bis hin zu Requisiten. Als sie nach dem Abschluss zur Akademie für Design und Kunst wechselte, empfand sie die eher verschulten Abläufe als einengend. „Ich war eine Suchende, fast rebellisch, mit der Schwierigkeit, einen Punkt bei meinen Arbeiten zu finden.“ Die Befreiung kam unerwartet und von anderer Seite – durch ihre Heirat und Schwangerschaft mit Zwillingen musste Julia Matveyeva zwar kürzertreten, konnte das Studium aber dennoch fortsetzen. „Das hat mein Leben verändert. Ich habe gespürt, wie es ist, wenn ein kleines Wesen von einem abhängt, zart, unschuldig, zerbrechlich. Dadurch hat sich mein Gefühl für alles andere gewandelt. Ich habe eine größere Klarheit bekommen.“

Das Familienprojekt wuchs, Julia Matveyeva und ihrem Mann werden fünf Kinder geschenkt, drei sind heute bereits erwachsen und leben außerhalb der Ukraine. Dieses tiefere Verständnis und Gefühl von Ganzheit und Harmonie entdeckte sie auch an einem Ort, der für sie früher keine Rolle spielte: der orthodoxen Kirche. Sie fing an, sich für liturgische Textilien (Altar) zu interessieren – ein Gebiet, das an einer staatlichen Hochschule eher als verpönt galt. Und doch erhielt sie die Möglichkeit, ihre praktische Abschlussarbeit in diesem Bereich zu absolvieren und eine Doktorarbeit in Kunstgeschichte anzuschließen. Die Ikonografie auf den Stoffen ist wie eine Art Sprache, die es für sie zu entschlüsseln gilt. „Die Textilien und ihre Bearbeitung sind ein wichtiges Element und Bindeglied im Verständnis von Kirche und Kunstgeschichte.“

Trennung von ihrem Mann und Land

Inzwischen selbst Dozentin an der Universität, traf sie 2022 die jähe Zäsur des russischen Angriffskriegs, die sich vor Kurzem zum zweiten Mal jährte, wie aus dem Nichts. Dass Charkiw wirklich bombardiert wurde, konnte sie erst nach und nach glauben. „Ich hatte Online-Unterricht und habe schließlich gehört, dass Bomben in der Nähe fielen“, erinnert sie sich. Nach Diskussionen, ob der Krieg wirklich andauern wird, entschloss sie sich, mit ihren Töchtern zu fliehen. Ihr Mann musste bleiben, bisher aber nicht zum Militär, da er als Professor für Geologie noch im Online-Format unterrichtet. Ihr Weg führte sie nach Griechenland und ein halbes Jahr später nach Oppenweiler, wo ihre ehemalige Studentin Vera Boschmann mit den drei Kindern und ihrem Mann lebt. Die Familie rückte zusammen, um sie vier Monate aufzunehmen, wofür sie ihr unglaublich dankbar ist. Nun heißt es für die 49-Jährige, gemeinsam mit ihren zwei Töchtern eine neue Balance zu finden. Zwar war ihr erster Reflex, den Krieg und die Einschnitte in den Gesprächen nicht groß zu erwähnen, aber sie merkte, dass Menschen, die ihr begegnen, auch verstehen wollen, was dort passiert und wie es ihr geht. Gleichzeitig hilft es ihr, dass sie als Künstlerin die Möglichkeit hat, die Ereignisse in kreativer Weise zu verarbeiten. Sie erinnert sich noch gut an Reaktionen auf ihren Film „Ich male Bilder der Ruhe“. „Ich wurde gefragt, wie ich das in meiner Situation schaffe.“

Beim Malen trifft sie auf Heilsames

In ihrer Sicht stellen aber genau diese Bilder einen Gegenpol dar, der für sie wichtig ist. „Es ist meine Rehabilitation. Ich sehe die Natur, male einen Landschaftsausschnitt und meine Seele kommt mit etwas Gutem, Heilsamen zusammen.“ In einem anderen Projekt, das Teil einer ersten Ausstellung in Krefeld war, hat sie sich mit den Themen Flucht und Rückzugsraum auseinandergesetzt. Ihr Lösungsangebot: den Raum nutzen, den ein Baum schafft und in dem man mittels der schützenden, durchlässigen Zweige nicht allein bleiben muss. Zum Kunstwerk „Ein Baum des guten Gedankens“ gehört ein Buch, in dem auch die Besucherinnen und Besucher ihre Ideen festhalten konnten. Zudem arbeitet sie an Projekten wie gestickten Ikonen in byzantinischer Technik. Die Stoffbilder, die so entstehen, können schon mal 300 Stunden in Anspruch nehmen. Die Hintergründe des Gebiets wird sie im März mit Emanuel Gebauer in zwei Vorträgen im katholischen Gemeindezentrum Murrhardt erläutern. Dazu hat sie auch Musik im Gepäck, die das Thema atmosphärisch aufgreift, um so „ein besseres Verständnis zu schaffen“.

Der Kopf des Engels ist schon sichtbar. Eine solche Arbeit kann rund 300 Stunden dauern. Fotos: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Der Kopf des Engels ist schon sichtbar. Eine solche Arbeit kann rund 300 Stunden dauern. Fotos: Stefan Bossow

Sie experimentiert auch mit anderen Techniken und Materialien – beispielsweise mit Birkenholz, in die Zeichnungen geritzt werden.

© Stefan Bossow

Sie experimentiert auch mit anderen Techniken und Materialien – beispielsweise mit Birkenholz, in die Zeichnungen geritzt werden.

Vernissage zur Ikonenbilderschau von Bernhard Lüdecke und Vorträge, um in die Kunst von Byzanz einzutauchen

Auftakt Die Initiative Kirche vor Ort, das Zündfunkenteam der katholischen Seelsorgeeinheit Oberes Murrtal und die katholischen Erwachsenenbildung Rems-Murr haben sich unter der Federführung von Martin Stierand zusammengetan, um die religiöse Kunst von Byzanz zu beleuchten. „Während sich in der westlich-lateinischen Christenheit der Schwerpunkt der Verkündigung und Liturgie eher im rationalen Durchdringen der frohen Botschaft findet, ist dies in der östlich-orientalischen Christenheit bevorzugt eine Annäherung an das Mysterium der Menschwerdung Gottes in der Form von Huldigungen“, heißt es in der Vorschau. Zum thematischen Auftakt laden die Veranstalter am Samstag, 2. März, um 10 Uhr zu einer Vernissage ins Begegnungscafé, Fornsbacher Straße 3 in Murrhardt, ein. Dort zeigt Bernhard Lüdecke aus Murrhardt eine Auswahl seiner Ikonenbilder. Im Anschluss wird ein Brezelfrühstück im Café angeboten.

Vorträge Am Donnerstag, 7. März, von 18 bis 20 Uhr sprechen Julia Matveyeva und Emanuel Gebauer über das Thema „Der Weg von der römischen Antike zur frühchristlichen Bildersprache – Katakombenmalereien und Mosaiken von Ravenna“. „Spuren der religiösen Kunst von Byzanz in Europa“ mit einer Annäherung ans Ostermysterium – ebenfalls mit den beiden Experten – ist Thema am Donnerstag, 14. März, 18 bis 20 Uhr. Beide Vorträge finden im katholischen Gemeindezentrum, Blumstraße 30 in Murrhardt, statt. Weitere Infos zu Julia Matveyeva finden sich im Netz unter www.matveyevajulia.art/en.

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Erstellt:
29. Februar 2024, 06:00 Uhr

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Junge Kreativtalente im Fokus

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