Forderung nach mehr Arbeitszeit

Kretschmann versteht die Stimmung im Land nicht mehr

Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert angesichts der Wirtschaftslage die Ausweitung der Arbeitszeit. Das ist nicht nur an sich problematisch, sondern schadet den Grünen auch mit Blick auf die Landtagswahl, kommentiert Sascha Maier.

Arbeitet nach Selbstauskunft zwölf Stunden am Tag: Ministerpräsident Winfried Kretschmann

© dpa/Bernd Weißbrod

Arbeitet nach Selbstauskunft zwölf Stunden am Tag: Ministerpräsident Winfried Kretschmann

Von Sascha Maier

Es ist aller Ehren wert, dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zwölf Stunden am Tag arbeitet, wie er jüngst dem Magazin „Stern“ verraten hat. Für diese Einsatzbereitschaft wurde er womöglich auch ins höchste Amt des Landes Baden-Württemberg gewählt und rechtfertigt sein Ministerpräsidentengehalt, das bei rund 17 000 Euro im Monat liegt (nur Grundgehalt).

Seine Erwartungshaltung, dass auch der Rest der Bevölkerung angesichts der Wirtschaftslage seinem Beispiel folgen möge, was Kretschmann ebenfalls im Interview forderte, lässt jedoch die berechtigte Frage aufkommen, ob dem 76-Jährigen auf seinen letzten Metern im Amt der politische Instinkt abhanden gekommen ist.

In sozialen Medien haben Kretschmanns Durchhalteparolen auf dem Rücken des kleinen Arbeitnehmers wenig überraschend harsche Kritik ausgelöst – unter anderem von dem Stuttgarter Linken-Bundestagsabgeordneten Luigi Pantisano, der Kretschmann vorwarf: „Diese Aussage zeigt, wie abgehoben Kretschmann mittlerweile ist.“

Fleiß eine Grundtugend der Schwaben

Viel schwerer als Attacken politischer Mitbewerber wiegt aber: Fleiß gehört zu den Grundtugenden vieler Schwaben, in deren Selbstverständnis der im Ländervergleich große Wohlstand nicht von ungefähr kommt. Jetzt zu fordern, die in großen Teilen durchaus ernsthaft arbeitende Bevölkerung möge doch bitte ein bisschen mehr malochen, um politische Fehler – wie etwa die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland – auszubügeln, wirkt fast ein wenig unverschämt.

Auch der von Kretschmann herangezogene Vergleich zu anderen Industrienationen, in denen angeblich mehr gearbeitet wird, hinkt. Es mag zwar wissenschaftliche Untersuchungen geben, wonach das stimmt. Dennoch bleibt die durchschnittliche Jahresarbeitszeit zunächst eine abstrakte Zahl, die man bei genauerem Hinsehen mit Kinderbetreuungsangeboten, Teilzeitbeschäftigung und vielen anderen Faktoren gegenrechnen müsste, um die tatsächliche Belastung der Menschen durch Arbeit auch nur ansatzweise erheben zu können.

Aber ganz unabhängig davon, ob der Ministerpräsident mit der Beobachtung richtig liegt oder nicht, dass die deutsche Arbeitsmoral in den vergangenen Jahrzehnten gelitten habe: Vor allem mit Blick auf die Landtagswahl am 8. März 2026, für die Kretschmann ohnehin nicht wieder kandidiert, senden die Einlassungen des scheidenden Landesvaters ein fatales Signal. Die Grünen sind ja nicht die zuletzt aus dem Bundestag ausgeschiedene FDP, deren Wähler sich als besondere Leistungsträger verstehen. Sondern es geht immer noch um eine Ökopartei, die von ihren Stammwählern sozialpolitisch links der Mitte verortet wird. Gesetze, die zum Arbeitnehmerschutz und zur Work-Life-Balance beitragen, wurden mithilfe der Grünen in den Parlamenten erstritten – nicht von Freien Demokraten.

Grundversprechen der Grünen ausgehöhlt

Mit seiner Aussage höhlt Kretschmann ein Grundversprechen der grünen Partei aus: nämlich dass ein gerechtes Miteinander möglich ist, ohne dass sich vor allem die Menschen im Niedriglohnsektor im wahrsten Sinne des Wortes ihren Buckel krumm schuften müssen – während die wenigen, die Kretschmann nicht anspricht und die vielleicht wirklich Zwölf-Stunden-Tage bestreiten, hierzulande dafür ja in der Regel mit deutlich mehr Geld und daraus resultierenden Privilegien entschädigt werden.

Angesichts sehr mauer Umfragewerte der Grünen kann sich die Partei solche unnötigen Hypotheken eigentlich nicht leisten. Und die bürgerliche Entwicklung der Partei hin oder her: Als Folge solch gedankenloser Impulse von prominenten Parteifreunden wird der nächste Ministerpräsident von Baden-Württemberg womöglich nicht Cem Özdemir, sondern Manuel Hagel heißen.

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Erstellt:
11. April 2025, 15:14 Uhr
Aktualisiert:
11. April 2025, 15:21 Uhr

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