Lederfabrik als Interimsstromversorger

„Vor 100 Jahren: Murrhardt zu Beginn der Weimarer Republik“ (4) Der Aufbau des Netzes in der Stadt dauerte rund zehn Jahre

Wie heute die flächendeckende Versorgung mit schnellem Breitbandinternet, so war Anfang des 20. Jahrhunderts die Elektrizitätsversorgung ein für Gewerbebetriebe und Privatpersonen gleichermaßen notwendiges, aber mit allerlei Schwierigkeiten und Verzögerungen verbundenes Infrastrukturprojekt.

Die Aufnahme zeigt die damalige Gaststätte Waldhorn mit einem typischen Dachständer für den Leitungszugang. Foto: Stadtarchiv Murrhardt

Die Aufnahme zeigt die damalige Gaststätte Waldhorn mit einem typischen Dachständer für den Leitungszugang. Foto: Stadtarchiv Murrhardt

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Zehn Jahre dauerte es, bis die Einwohner der Walterichstadt Strom für Licht und den Antrieb von Motoren, Maschinen und anderen Geräten nutzen konnten. Dafür gab es eine ganze Reihe von Ursachen, wie Zwangswirtschaft und schwerfällige Bürokratie, Materialknappheit und Arbeitskräftemangel als Folgen des Ersten Weltkriegs und der politisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen Neuordnung. Hinzu kamen enorm hohe Investitionen und stark steigende Kosten sowie der Widerstand von Grundstücksbesitzern gegen den Bau der Überlandleitungen.

Ein Hindernis war auch das 1905/06 erbaute Murrhardter Gaswerk. Es erzeugte Gas aus Kohlen, das vor allem für die Beleuchtung in der Stadt und den Gebäuden verwendet wurde. Gegründet hatte es die Bremer Firma Carl Francke als AG, die es an die Zentralverwaltung für Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke verpachtete, ebenfalls in Bremen. Das Gaswerk arbeitete dauernd mit Defizit, darum sträubten sich dessen Verantwortliche mit allen Kräften gegen die Elektrizitätsversorgung als Konkurrenz mit dem Argument, Gas sei viel billiger als Strom. Überdies besaß das Gaswerk das „Recht der Vorhand“, wodurch es berechtigt war, zuerst über einen Vertragsabschluss zu entscheiden, bevor dieser endgültig erfolgen konnte. Darum kaufte die Stadt am 16. Januar 1920 das Gaswerk und verwaltete es ab 1. April 1920 durch einen dafür bestellten Ausschuss. Daraus entwickelten sich später die Stadtwerke als Eigenbetrieb der Stadtverwaltung.

1912 begannen die Planungen zum Anschluss der Walterichstadt ans Stromnetz. Dazu holte das Stadtschultheißenamt Informationen von verschiedenen Nachbargemeinden ein, die bereits Strom hatten, ebenso von Elektrizitätswerken im Umkreis. Zudem unterstützte ab 1913 die Technische Beratungsstelle der königlichen Zentralstelle für Gewerbe und Handel, Vorgängerbehörde des Landesgewerbeamts, die Stadt mit Empfehlungen, wie und durch welches Versorgungsunternehmen und Kraftwerk die Elektrizitätsversorgung am besten zu bewerkstelligen wäre. Schon bald entschieden sich Stadtschultheißenamt und Gemeinderat fürs „Kraftwerk Altwürttemberg AG“ (Kawag) bei Ludwigsburg als Stromlieferanten, das auch die Fernleitung und das Ortsnetz aufbauen konnte.

Am 2. November 1913 fand erstmals ein „Vortrag über Elektrizität, deren Verwertung und Kosten“ statt, dem später weitere Informationsveranstaltungen folgten. Damals war noch geplant, die Gemeinden um Backnang und Murrhardt gemeinsam anzuschließen, was indes wohl auch wegen des Ersten Weltkrieges nicht umgesetzt wurde. Während des Krieges liefen aber die Verhandlungen zwischen dem Stadtschultheißenamt und der Kawag weiter, die zum Abschluss des Vertrags über die Stromlieferung am 12. Juli 1918 führten. Darin war vorgesehen, dass der Bau der Fernleitung und des Ortsnetzes bis Ende 1918 abgeschlossen sein sollten und die Stromlieferung ab 1. Januar 1919 beginnt.

Doch konnte dieser Termin nicht eingehalten werden wegen des Kriegsendes und der Revolution sowie den dadurch bedingten enormen Schwierigkeiten, dafür Material und Arbeitskräfte zu bekommen. Im Gemeinderatsprotokoll vom 25. September 1918 heißt es, dass laut Kawag „die Verhältnisse (in Murrhardt) nicht günstig“ seien, da wegen der „großen Abgelegenheit einer Reihe von Teilgemeinden ein umfangreiches Leitungsnetz erforderlich ist, wofür viel Kapital aufzubringen ist“. Der Gemeinderat votierte dennoch dafür, dass die Kawag das Ortsnetz aufbaut. Denn die Elektrizitätsversorgung sei „von großer Dringlichkeit: Da die Fertigstellung der Leitung (...) bei dem großen Mangel an Leuchtmitteln ein außerordentlich dringliches Bedürfnis ist“, bat das Gremium um die möglichst rasche Genehmigung des Vertrags durchs Oberamt Backnang.

Daraufhin sagte die Kawag zu, „dass wir mit allen Mitteln besorgt sein werden, die Anschlussleitungen und Ortsnetze so rasch als möglich planmäßig auszubauen“, wollte zugleich aber auch Verträge mit den Teilgemeinden abschließen. Doch dies sei „nicht so einfach“, schrieb Stadtschultheiß Karl Blum am 16. Oktober, da diese vorab die ungefähren Kosten wissen wollten. Am 25. November 1918 fragte er bei der Kawag nach, wie es mit dem Bau der Leitung stehe, „da ich von Interessenten fast täglich nach dem Stand der Sache gefragt werde“. Laut Vertrag sollte „der Bau der Leitung so beschleunigt werden, dass Murrhardt spätestens am 1. Januar 1919 mit Strom versorgt ist“. Die Kawag antwortete am 26. November, dass dazu alle Vorbereitungen getroffen worden seien, aber: „Wir können keinen Bescheid über den Baubeginn und die Baufrist mitteilen.“

Der Lederfabrik-Strom wurde von einer mit Gerbholzabfällen gespeisten Dampfmaschine erzeugt

Manche Gewerbebetriebe, Geschäftsleute und Gaststätten hatten indes schon vorher dringenden Bedarf für Strom und griffen darum zur Selbsthilfe. So gab es bereits seit 1914 eine provisorische Stromleitung vom Kraftwerk der Lederfabrik Schweizer – einer Dampfmaschine, die mit Gerbholzabfällen betrieben wurde – zu einigen Gebäuden in der Innenstadt. Ende 1918 und Anfang 1919 fragte das Stadtschultheißenamt bei der Kawag an, ob provisorisch einige weitere Leitungen gelegt werden könnten zwischen diesem Kraftwerk und weiteren Gebäuden. Denn die Lederfabrik habe „elektrische Energie übrig“ und sei bereit, diese zu liefern, auch könnte damit „wohl der größte Teil der Stadt“ mit Strom versorgt werden. Diese Übergangslösung, bei der das Kraftwerk der Lederfabrik aushilfsweise Strom liefere, bis die Kawag die Fernleitung und das Ortsnetz gebaut habe und selbst die Stadt versorgen könne, sei „dringlich wegen der Kohlenknappheit“.

Auch die Obere Mühle lieferte schon seit einiger Zeit Strom an einige Gaststätten, darunter den „Stern“ für die „kinematografischen Vorstellungen“ in dessen Saal, was jedoch ohne Genehmigung durch das Stadtschultheißenamt geschehen war und nachgeholt werden musste. Denn schon damals brauchten Stromleitungen eine Genehmigung und hatten den Sicherheitsvorschriften zu entsprechen wegen der damit verbundenen Feuergefahr. Sie wurden auch von Fachleuten kontrolliert, die diverse Nachbesserungen forderten, wie eine vollständige und sichere Isolierung. Die Kawag antwortete, sie habe nichts dagegen, „wenn durch solche Provisorien der Leuchtmittelnot abgeholfen wird“, diese dürften aber kein Dauerzustand werden.

Ein großes Problem war, dass durch die Verzögerungen die Kosten stiegen, wodurch das gesamte Projekt immer teurer wurde. So informierte Blum die Kawag am 22. April: „Die benötigte Summe zur Ausführung der Anlage ist derart hoch, dass die Teilgemeinden ohne Unterstützung durch Reich und Staat absolut nicht in der Lage sind, sie ausführen zu lassen, dies hängt davon ab, ob Zuschüsse gewährt werden. Darum soll zunächst die Versorgung der Stadt und der nächstgelegenen Teilorte (...) erfolgen.“ Dagegen stellte man den Stromanschluss der Teilgemeinden zurück, für die der Leitungsbau zu teuer war, denn die Kosten betrugen über 1,2 Millionen Mark, was heute etwa der doppelten Summe in Euro entsprechen würde.

Info
Zur Geschichte der Elektrizitätsversorgung im Königreich und Volksstaat Württemberg

Um die Jahrhundertwende begann im Königreich Württemberg die Elektrizitätswirtschaft mit dem Übergang von der lokalen zur flächendeckenden Stromversorgung durch die neuartigen Überlandzentralen. Im mittleren Neckarraum, der dicht besiedelten industriellen Kernregion des Landes mit hohem Stromverbrauch von Landwirtschaft, Handwerk, Industrie und Privathaushalten, etablierten sich die ersten großen Elektrizitätswerke auf kombinierter Wasserkraft- und Kohlebasis.

Dazu gehörte auch das 1909 gegründete „Elektrizitätswerk Beihingen-Pleidelsheim“, das seit 1913 als „Kraftwerk Altwürttemberg AG“ (Kawag) firmierte und unter der Kontrolle des rheinischen Energiekonzerns RWE stand. Die privatwirtschaftlich betriebenen elektrischen Netze folgten bei ihrer räumlichen Ausdehnung stets dem Gesetz des Rentabilitätskalküls. So waren Ballungszentren gut versorgt, dagegen bestanden teils große Lücken vor allem in den ländlichen Regionen mit niedriger, für die Elektrizitätslieferanten unrentabler Verbrauchsstruktur.

Damals gab es in zahlreichen kleineren Städten ein Gasversorgungsnetz, das teilweise von privaten Gesellschaften betrieben wurde, sich aber später immer öfter in kommunalem Besitz befand. Vor 1914 dominierten die Gasbeleuchtung in den Städten und auf dem Land die Petroleumlampen. In Städten mit privat betriebenen Gaswerken, so auch in Murrhardt, hatte dessen Eigentümer eine städtische Konzession zur Benutzung der kommunalen Straßen und Wege erhalten, die oftmals ein exklusives Recht einräumte. Auf dieser Basis wehrten sich einige Gaswerke gegen die „elektrische Konkurrenz“. Darum setzte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg die elektrische Beleuchtung endgültig durch.

Unter den spezifischen Bedingungen des württembergischen Wirtschaftslebens kam der Elektrifizierung eine besondere Rolle zu. Die vollkommene Abhängigkeit vom Kohleimport hatte sich mit zunehmender Industrialisierung zu einem Haupthemmnis für Handwerk und Industrie entwickelt. Erst die Elektrizität eröffnete dem Gewerbe und der unter Arbeitskräftemangel leidenden Landwirtschaft neue Perspektiven. Den Strom erzeugte man durch intensive Nutzung einheimischer Wasserkräfte sowie mit importierter Kohle, und die neue Hochspannungstechnik ermöglichte es, ihn weiträumig zu verteilen. Ein in kleinen Baugrößen verfügbarer Elektromotor war von allen Antriebsarten am besten geeignet für den in Württemberg vorherrschenden Kleinbetrieb.

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Erstellt:
31. August 2019, 06:00 Uhr

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