Leitungsbau traf auf massiven Widerstand

„Vor 100 Jahren: Murrhardt zu Beginn der Weimarer Republik“ (5 und Schluss) Elektrizitätsversorgung musste Hürden nehmen

Die Einwohner der Walterichstadt, die sehnlichst den Anschluss ans Stromnetz herbeisehnten, wurden auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Statt ab 1. Januar 1919, wie vertraglich vereinbart, dauerte es bis zum Spätherbst 1921, bis endlich die Zuleitung und das Ortsnetz fertig gebaut waren und das Stadtgebiet mit Elektrizität versorgt wurde.

Heute schwer vorstellbar: Ein Teil der Hausbesitzer hatte ein Problem damit, Installationen von Dachständern (auf dem Foto beim Dach des Rathauses links oben zu sehen) und andere Technik zu akzeptieren. Die Kawag schrieb damals zu den Schwierigkeiten, die ihnen die Eigentümer machten: „Wir sind noch nicht so weit, dass wir die Elektrizität drahtlos in die einzelnen Häuser schicken können, wir brauchen die Drähte und diese brauchen Stützen.“ Foto: Archiv Carl-Schweizer-Museum

Heute schwer vorstellbar: Ein Teil der Hausbesitzer hatte ein Problem damit, Installationen von Dachständern (auf dem Foto beim Dach des Rathauses links oben zu sehen) und andere Technik zu akzeptieren. Die Kawag schrieb damals zu den Schwierigkeiten, die ihnen die Eigentümer machten: „Wir sind noch nicht so weit, dass wir die Elektrizität drahtlos in die einzelnen Häuser schicken können, wir brauchen die Drähte und diese brauchen Stützen.“ Foto: Archiv Carl-Schweizer-Museum

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Immer wieder fragten die Bürger bei Stadtschultheiß Karl Blum nach, wann es denn endlich so weit sei, und erkundigten sich nach den Kosten, darum fand im Sommer 1919 ein „Aufklärungsvortrag“ statt. Zudem bat Blum die Kawag wiederholt dringend darum, den „Bau der Fernleitung von Sulzbach nach Murrhardt und den Bau des Ortsnetzes alsbald in die Wege zu leiten“. Laut dem Gemeinderatsprotokoll vom 19. August bereitete die Versorgung „große Schwierigkeiten“ und forderte „kolossale finanzielle Opfer“, auch herrschte Unsicherheit darüber, ob die Kawag wegen der Kohlenknappheit überhaupt Strom liefern könne.

Der Gemeinderat beschloss laut Protokoll vom 1. September 1919, das Ortsnetz auf Rechnung der Gesamtgemeinde aufbauen zu lassen und beim Landesarbeitsministerium um Zusicherung eines möglichst hohen Zuschusses zu den Kosten nachzusuchen. Ebenso, mit der Kawag einen Vertrag abzuschließen über den Bau der Leitung und die Stromabnahme, sowie eine Vereinbarung mit den Teilgemeinden zu treffen über Abnahme und Preise. Die Frage der Beschaffung von Mitteln zur Finanzierung sollte zurückgestellt werden, bis die Höhe der Kosten und der Zeitpunkt des Bedarfs vorliegen.

Zudem tauchte ein neues Problem auf, das Projekt zu verwirklichen. Laut Gemeinderatsprotokoll vom 27. November 1919 weigerten sich Grundstücksbesitzer der Sulzbacher Teilorte Bartenbach und Schleißweiler, die Masten für die Fernleitung auf ihren Grundstücken erstellen zu lassen. Zudem verlangten sie Entschädigungen von je 2500 Mark für die Genehmigung der Durchleitung. Eine persönliche Rücksprache von Stadtschultheiß Blum mit diesen Personen verlief offenbar erfolglos, darum wurde ihnen ein Zwangsenteignungsverfahren angedroht, wozu es dann aber nicht kam.

Aus einem Schriftstück von Anfang Februar 1920 geht hervor, dass die Teilgemeinden vorläufig auf den Anschluss ans Stromnetz verzichteten – wegen den Schwierigkeiten beim Leitungsbau, den gestiegenen Kosten, die bereits fünfmal so hoch waren wie 1919, und den erhofften, jedoch nicht gewährten Zuschüssen. Laut Gemeinderatsprotokoll vom 12. Juli 1920 erfolgte unter der Regie von Gemeinderat Albert Zügel als Vertreter einer Gruppe von Hausbesitzern der (provisorische) Anschluss ans Sägewerk Otto Gampper, ebenso der Anschluss einer weiteren Gruppe von Hausbesitzern an die Lederfabrik Schweizer unter der Regie von Gemeindepfleger Emil Ellwanger.

Am 28. Januar 1921 informierte die Kawag das Stadtschultheißenamt, dass der Bau der Leitung in Kürze beginne und Arbeiten vergeben worden seien. Die Fernleitung sollte im Frühjahr, das Ortsnetz im Sommer gebaut und „vor Eintritt der Lichtperiode“ fertiggestellt werden und Murrhardt mit Strom versorgt sein. Die Aufträge für die Hausinstallationen sollten in erster Linie an Murrhardter Betriebe vergeben werden. Der Gemeinderat ließ 1921 schließlich drei Firmen zu: den Murrhardter Elektrotechnik-Betrieb Gustav Gauss mit Hermann Zügel und Erwin Kachel sowie die Backnanger Firmen Maier und Co. sowie Knöpfle und Müller.

Am 27. Juli 1921 beklagte die Kawag außergewöhnliche Schwierigkeiten beim Ortsnetzbau: „Wir müssen feststellen, dass uns ein derartig mangelhaftes Verständnis, gepaart mit mangelhaftem Entgegenkommen der Einwohner bei Einführung der elektrischen Leitungen, noch nirgends vorgekommen ist.“ Darum sollte eine Kommission gebildet werden, die mit Kawag-Vertretern über den Verlauf des Ortsnetzes berät und auf die Einwohner Druck ausübt, damit diese die Installation von Dachständern und anderen Einrichtungen auf ihren Häusern zulassen. „Wir sind noch nicht so weit, dass wir die Elektrizität drahtlos in die einzelnen Häuser schicken können, wir brauchen die Drähte und diese brauchen Stützen“, stellte die Kawag klar. Dazu drohte sie: „Sollten wir weiter auf Schwierigkeiten stoßen, so werden wir kurzerhand den Weiterbau der Leitung einstellen und die Gemeinde für alle entstehenden Unkosten haftbar machen. (...) Wir haben keine Lust, noch unnötiges Geld durch Zeitverluste in Murrhardt zu vergeuden.“ Das zeigte offenbar die gewünschte Wirkung, denn im Sommer kamen die Arbeiten gut voran. So berichtete die Murrhardter Zeitung im September 1921, dass „das Ortsleitungsnetz seiner Vollendung entgegengeht“. Und ab 21. November lieferte die Kawag Strom in die Häuser.

Reinhold Nägele und Willy Zügel haben sich den Anschluss ohne Mehrkosten erkämpft

Allerdings war das Ortsnetz zu klein und auf die Innenstadt begrenzt. Darum wandte sich eine ganze Reihe Außenwohner, sprich Einwohner, deren Häuser sich an der Peripherie in Randgebieten um die Innenstadt herum befanden, darunter auch die beiden bildenden Künstler Reinhold Nägele und Willy Zügel, in einem Brief vom 23. September 1921 ans Stadtschultheißenamt. Sie wollten ebenfalls ans Ortsnetz angeschlossen werden, ohne dafür Mehrkosten bezahlen zu müssen. Daraufhin erklärten sich Stadtschultheißenamt und Gemeinderat dazu bereit, diesen Bürgern Zuschüsse zu den Kosten für die Leitungen zu deren weiter abgelegenen Gebäuden zu bezahlen.

Laut Gemeinderatsprotokoll vom 26. Oktober 1921 stellten die Stadträte per Beschluss klar: Die Kawag war verpflichtet, die Gebäude an der Peripherie ohne besondere Zusatzkosten anzuschließen. Auch stimmten sie zu, dass die Stadt einen „angemessenen Beitrag aus der Stadtkasse“ zu den Überteuerungszuschüssen bewilligte. In einer Stellungnahme des Gemeinderats vom 5. November heißt es: Das aufgebaute Ortsnetz „genügt nicht, um alle angemeldeten Abnehmer zu versorgen“. Auch stellte das Gremium klar, dass Karlstraße, Siegelsberger Straße, Mönchsrain und Ziegelhütte (heute Maienweg und Umgebung) zum geschlossenen Wohnbezirk gehören.

Wegen des Widerstands von Grundstücksbesitzern in Bartenbach und Schleißweiler wurde die Fernleitung im Frühjahr 1921 über Sechselberg, Hörschhof und Waltersberg gebaut. Schließlich konnte auch der Konflikt zwischen der Stadt und der Kawag über den weiteren Ausbau des Ortsnetzes beigelegt werden, worauf dieser ab Anfang 1922 erfolgte. Dies geschah aber erst, nachdem das Stadtschultheißenamt am 25. Februar angedroht hatte, dass die noch nicht angeschlossenen Gebäude von anderen Elektrizitätswerken Strom beziehen würden.

Am 29. März 1922 stimmte der Gemeinderat zu, dass das Stadtschultheißenamt Gebäudebesitzern am Hofberg und Wolkenhof, in der Karlstraße, Fornsbacher Straße und Riesbergstraße sowie am Walterichsweg 70 Prozent der Kosten als Zuschuss zahlt, was etwa einer Summe von 240000 Mark entsprach. Ohne Zuschuss angeschlossen wurden die Häuser in der Siegelsberger Straße, am Mönchsrain und der Ziegelhütte – im August 1922. Damit war die Walterichstadt als eine der letzten Gemeinden in Württemberg ans Stromnetz angeschlossen.

Die Elektrizitätsversorgung der vielen Teilorte, Weiler und Wohnplätze war jedoch nochmals ein schwieriger und langwieriger Kraftakt. Im „Murrhardter Buch“, das Stadtschultheiß Karl Blum 1925 herausgab, heißt es, dass zur Versorgung weiterer Teilgemeinden sowie der Gemeinden Fornsbach, Sechselberg und Grab im Sommer 1925 zwei Stromversorgungsverbände gegründet wurden. Verband 1 umfasste die Teilgemeinden und Wohnplätze südlich der Murr: Gallenhöfe, Fautspach, Vorderwestermurr, Hinterwestermurr, Schloßhof, Käsbach, Köchersberg mit Berghöfle, Sauerhöfle, Klettenhöfle, Klingen, Hausen mit Wahlenmühle und Eisenschmiedmühle sowie Fornsbach und Mettelberg. Zum Verband 2 gehörten die Teilgemeinden nördlich der Murr: Hoffeld, Hintermurrhärle, Vordermurrhärle, Kieselhof, Hördthof, Steinberg, Siegelsberg sowie Grab und Schönbronn.

Laut den Akten im Stadtarchiv waren die Arbeiten erst 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, beendet und die Einwohner mit Strom versorgt.

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Erstellt:
7. September 2019, 06:00 Uhr

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