Zehnkämpfer Zweiter in Paris
Leo Neugebauer nimmt nicht nur Silber mit – sondern auch „große Lektionen“
Leo Neugebauer hat im olympischen Zehnkampf von Paris Silber gewonnen. Dass er eine große Chance auf Gold verpasst hat? Steht für den Mann vom VfB Stuttgart nicht im Vordergrund. Dennoch will er seine Lehren ziehen.
Von Dirk Preiß
Im ersten Moment war er ein bisschen geplättet ob der Menge an Fragestellern, die nun, am Ende dieser zwei Tage im Stade de France zu Paris, wissen wollten, wie das alles gelaufen war. Aber: Leo Neugebauer ist ja eine beeindruckende Erscheinung, vor Kraft strotzend, dazu im Grunde stets gut gelaunt. Also stellte er sich hin, setzte sein Lächeln auf – und wollte vor allem eines: Dass das Geschehene nicht als verpasste Chance verstanden wird.
„Ich habe“, sagte Leo Neugebauer am späten Samstagabend, „eine olympische Silbermedaille.“ Das sei „eine Ehre“. Da hatte er gerade die obligatorische Ehrenrunde hinter sich, auf der nach zwei Tagen Zehnkampf nicht nur die Sieger gefeiert werden, sondern das komplette Feld sich den Applaus abholt für eine immer wieder aufregende wie spannende Reise. Die von Leo Neugebauer hatte, wie gesagt, auf Platz zwei geführt – weshalb er auch am Tag danach im Deutschen Haus betonte: „Das Stadion war cool, die Stimmung war verrückt, ich hatte Spaß.“ Und: „Ich bin stolz.“ Nicht nur auf das nackte Ergebnis.
Nach den verletzungsbedingten Absagen von Weltmeister Pierce LaPage (Kanada) und Weltrekordler Kevin Mayer (Frankreich) war der 24-Jährige als Favorit in den Zehnkampf von Paris gestartet. Zwar lieferte er in den meisten Disziplinen keine absoluten Topleistungen ab, dennoch wurde er seiner Rolle lange gerecht – nach dem ersten Tag und auch bis nach der achten Disziplin, dem Stabhochsprung. So lange mit eben dieser Spitzenposition klarzukommen, beschrieb er, „ist für den Kopf gar nicht so einfach“.
Aus seiner Sicht hat das – alles in allem – gut geklappt, sonst wäre Silber nicht möglich gewesen. Auch Niklas Kaul, der Achter wurde, lobte: „Er hat dem Druck standgehalten.“ Aber, klar: Da gibt es auch diese andere Sicht auf die Dinge.
Die Mitfavoriten fehlen und patzen
Eben wegen der zwei Absagen und dem Null-Ergebnis von Damian Warner (Kanada) und Sander Skotheim (Norwegen) im Stabhochsprung war die Chance auf Gold für Leo Neugebauer riesengroß. Und wäre er auch nur in die Nähe seines deutschen Rekords gekommen, den er erst im Juni auf 8961 Punkte verbessert hatte, wäre der ganz große Triumph auch sicher gewesen.
Doch seinen ersten olympischen Zehnkampf konnte der Leichtathlet eben lediglich als „okay“ bezeichnen. In fast allen Disziplinen ließ er ein bisschen was liegen, sodass am Ende 48 Punkte auf den Spitzenplatz fehlten. Den hatte in der vorletzten Disziplin, dem Speerwerfen, der überraschend starke Norweger Markus Rooth – er stellte sieben Bestleistungen auf – übernommen. Im abschließenden 1500-Meter-Lauf konnte Leo Neugebauer nur noch Silber absichern, Gold nicht mehr angreifen. 8796 zu 8748 stand es am Ende für den jungen Norweger. Dritter wurde Lindon Victor aus Grenada.
„Diese Silbermedaille wird für immer in den Geschichtsbüchern stehen“, sagte Dieter Göggel. Der Leichtathletik-Abteilungsleiter des VfB Stuttgart gab aber zu: „Ich muss ehrlich sein: Bei dieser Ausgangslage hatten viele schon mit Gold gerechnet.“
Die Freude ist dennoch groß beim VfB, der Leo Neugebauer, der bis dahin für die LG Leinfelden-Echterdingen gestartet war, in diesem Jahr unter Vertrag genommen hatte. Nach Helmar Müller (Bronze mit der 4x400-Meter-Staffel 1968) und Jürgen Klinsmann (Bronze mit dem Fußballteam 1988) ist es die dritte olympische Medaille für den VfB.
Dieter Göggel hatte den zweiten Zehnkampf-Tag live im Stadion verfolgt – wie rund 40 andere, die allein wegen des Modellathleten aus Leinfelden-Echterdingen nach St. Denis gekommen waren. Und die Leo Neugebauer ansonsten ja nicht ganz so oft sehen.
Weiterhin Training in den USA
In den vergangenen viereinhalb Jahren hat der Zehnkämpfer an der University of Texas in Austin studiert – und dort die für ihn perfekten Trainingsbedingungen genutzt. Das hat ihn groß gemacht, bringt aber Verpflichtungen mit sich. Auch in diesem Jahr musste er trotz der Olympiavorbereitung die amerikanische College-Saison komplett absolvieren. Die war zwar die beste seiner bisherigen Karriere, kostete aber natürlich Kraft. Auch im Wissen darum schob er den Gedanken an eine womöglich verpasste Chance in Paris wieder und wieder weit weg. Eine spontane Party gab es zwar am Samstag noch nicht, Neugebauer erzählte, er sei „schnell eingeschlafen“. Aber er wiederholte: „Ich bin überglücklich, auch erleichtert.“ Und um eine Erfahrung reicher.
Sein Silber-Wettkampf, der erste eines deutschen Zehnkämpfers seit Frank Busemann 1996, war schließlich sein erster olympischer Auftritt. Und er hat erkannt: „Bei diesen großen Wettkämpfen, wo es drauf ankommt, ist es eben doch anders.“ Diese Erfahrung hat er schon im vergangenen Jahr bei der WM in Budapest gemacht, als er als Fünfter eine Medaille knapp verpasste. Nun sei er „eine andere Person“. Die auch aus Paris 2024 lernen will.
„Ich werde große Lektionen mitnehmen“, sagte Leo Neugebauer und will sich weiterhin in den USA verbessern. „Never change a running system“, begründete er seinen Verbleib in Texas auch nach dem Ende seines Studiums. Er will auf Bewährtes setzen. Um neue Ziele anzugreifen.
Da ist die 9000-Punkte-Marke, da ist das Zehnkampf-Mekka Götzis, wo er unbedingt einmal starten will. Und im kommenden Jahr steht auch die WM in Tokio an. Ziemlich sicher mit Leo Neugebauer als Mitfavorit. Und mit erneut großem Interesse an „Leo the German“.