Neu im Kino: „Filmstunde_23“

Liebeserklärung ans Filmemachen

Die Dokumentation „Filmstunde_23“ zeigt, wie der Regisseur Edgar Reitz im Jahr 1968 in einer Mädchenschulklasse Bewegt-Bild-Kunst unterrichtet.

Am Mädchengymnasium: Edgar Reitz als Filmlehrer

© Real Fiction Filmverleih/Thomas Mauch

Am Mädchengymnasium: Edgar Reitz als Filmlehrer

Von Kathrin Horster

Zu allen Zeiten haben sich Väter morgens vor dem Spiegel rasiert, gekämmt und für die Kinder Faxen gemacht. Sobald aber jemand zusieht und das Geschehen filmt, wird das Banale besonders. Die Konserve dieses privaten Moments wird die Filmerin und Tochter des inzwischen längst verstorbenen Vaters mehr als ein halbes Jahrhundert später zu Tränen rühren.

Es gibt viele solcher wehmütigen Szenen in der „Filmstunde_23“, jener sachlichen Liebeserklärung ans Medium Film des mittlerweile über neunzigjährigen Dokumentaristen Edgar Reitz und dessen Kollegen Jörg Adolph. Reitz gehörte 1962 zu den 26 Berserkern, die bei den Oberhausener Kurzfilmtagen in einem Manifest „Papas Kino“ für „tot“ erklärten und eine neue deutsche Filmkunst nach dem kulturellen Kahlschlag der Nazis propagierten. 1968 hatte Reitz an einer Münchner Mädchenschule im Rahmen eines Pilotprojektes schließlich versucht, eine fundierte Medienerziehung zu installieren. Doch der ehrgeizige Traum, das Fach Film fest im schulischen Kurrikulum zu verankern, scheiterte am Desinteresse der Politik. Bis heute hängt es von den Prioritäten des Lehrpersonals und den Schulleitungen ab, ob, wie intensiv und systematisch Film und Medien im Unterricht thematisiert werden. Filme gucken, denken die Leute, kann doch jeder!

Ein unbestechliches Bild von Vergangenheit und Gegenwart

Dabei ist das Wissen darum, wie Filme entstehen, welcher Mittel sie sich bedienen und wie der Film als Sprache funktioniert, essenziell, um die Welt an sich zu verstehen. Filme bilden den aktuellen Zeitgeist ab, sie erzählen von Politik und Kultur, vom Guten und Schlechten einer Ära, bilden sowohl Lügen als auch Wahrheiten ab. Ein unmittelbareres, auch unbestechlicheres Bild von Vergangenheit und Gegenwart, von Geschichten und Historie, kann es nicht geben, das macht Edgar Reitz schon 1968 den 14-jährigen Teilnehmerinnen seiner Schul-Filmklasse klar.

In „Filmstunde_23“ kommen die zu Seniorinnen gereiften Ex-Teenagerinnen noch einmal zusammen, um mit Reitz die im Workshop erstellten Werke neu zu sehen. Reitz dokumentierte seinen Unterricht mit der Kamera und auch das eigene, didaktisch anspruchsvolle Konzept. Er sei der Erste gewesen, der nach den Gedanken der Mädchen gefragt und sie ernst genommen habe, sagt eine Zeitzeugin von damals vor der Kamera heute. Die Enttäuschung über die sonst ignorante, stur auf Leistung pochende Elterngeneration schwingt in ihren Worten mit.

Über das Privat-Anekdotenhafte hinaus vermitteln die Aufnahmen von 1968 die Piefigkeit dieser Jahre, auch den fast heiligen Ernst, mit dem die Mädchen ihre Ausbildung und die eigene Emanzipation vom Elternhaus angingen. Der Faktor Zeit ist bei Reitz entscheidend; erbarmungslos registriert das Medium, wie seine Protagonisten im Verlauf der Jahre gealtert sind – und dennoch im Kern dieselben bleiben. Für den greisen Filmemacher selbst ist das die wichtigste Erkenntnis; dass Film im Stande ist, ein ganzes Leben im Zeitraffer abzubilden – und es damit vor dem Vergessen zu bewahren.

Filmstunde_23. Deutschland 2024. Dokumentarfilm. Regie: Edgar Reitz, Jörg Adolph. 83 Minuten. Ohne Altersbeschränkung.

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Erstellt:
9. Januar 2025, 13:38 Uhr

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