Murrhardt bekommt ein Zentrum für Vielfalt
Damit Integration und Inklusion keine leere Worthülsen bleiben, braucht es persönliches Engagement genauso wie strukturelle und professionelle Hilfe. Um beides zu unterstützen, eröffnet der Verein Pyramidea in der Walterichstadt eine Anlauf- und Beratungsstelle.
Von Christine Schick
Murrhardt. Die Räume wirken frisch bezogen und es fehlen noch ein paar Bilder oder Plakate an den Wänden. Zugleich spiegeln sie auch die Grundidee des Vereins Pyramidea wider: Jochen Schneider, der gemeinsam mit Olena Butova, Elke Tigli und Nawid Parsa das fachliche Kernteam des Zentrums für Vielfalt, kurz Vifa, bildet, erzählt, dass Haupt- und Ehrenamtliche oder anders gesagt Menschen, die über den Verein andere begleiten, und diejenigen, die begleitet werden, in der Hauptstraße 7 schon etliche Wochen gemeinsam werkeln, renovieren und einrichten. „Beim Aufbau der Küchenzeile haben an die 40 Leute mitgeholfen“, stellt Olena Butova fest. Am Montag in einer Woche ist es so weit und das Zentrum lädt alle Interessierten zu einem ersten offenen Kennlernnachmittag ein. Dass Pyramidea damit in Murrhardt eine feste Anlauf- und Beratungsstelle schafft, kommt nicht ganz von ungefähr. Es gab bereits einige Projekte und Aktivitäten in der Walterichstadt und Umgebung, die Engagierte gemeinsam umgesetzt haben.
Zur generellen Ausrichtung des Vereins mit Sitz in Stuttgart erinnert Jochen Schneider daran, dass sich Pyramidea für Toleranz in der Gesellschaft einsetzt und 2017 von Menschen mit Fluchterfahrung gegründet wurde, die sich gesellschaftliche Vielfalt, ein friedvolles Miteinander und den Abbau von Vorurteilen zum Ziel gesetzt haben. Konkret gab es in Murrhardt beispielsweise ein Theaterprojekt, eine Ausstellung in der Stadtbücherei oder ein Tafelprojekt während Corona, um Bedürftige mit Lebensmittelpaketen zu versorgen, bei denen sich junge Menschen mit Fluchterfahrung engagiert haben. Kontakt entstand auch zu Olena Butova, die mit ihrer Familie im März 2022 aus der Ukraine vor dem Krieg nach Murrhardt flüchtete und begann, ihre Landsleute zu unterstützen, insbesondere Familien mit behinderten Kindern und Jugendlichen. Nicht von Nachteil ist, dass Jochen Schneider gebürtiger Murrhardter ist und somit Kontakt zu weiteren Engagierten vor Ort hat. Eine kleine Bürodependance über der Agentur Arcos von Hardy Wieland gab es bereits. „Aber wir haben schon Räume für eine eigene und vor allem barrierefreie Anlaufstelle gesucht und sie sollte möglichst zentral liegen“, sagt Schneider.
Jetzt gibt es ein Büro für das Team, den Hauptraum sowie einen weiteren Raum, der sich für Beratungen nutzen lässt. Das Quartett hat sich einiges vorgenommen – es gibt zahlreiche Projekte, die begleitet werden wollen. Olena Butova kann an ihr Engagement für die ukrainische Community in Murrhardt und darüber hinaus anknüpfen. Als Mutter einer Tochter, die im Rollstuhl sitzt, weiß sie, dass für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen viele Alltagshürden auftauchen. „Wie finde einen Hausarzt oder wie beantrage ich einen Schwerbehindertenausweis? Das eine ist die Übersetzung, das andere aber, den Antrag auch auszufüllen.“ Elke Tigli, selbst auf eine Gehilfe angewiesen, kann da weitere Tipps geben. „Beispielsweise wie und wo man sich anmelden kann, wenn eine Bahnreise geplant ist“, sagt sie. Auch beim Kreisjugendring ist sie seit vielen Jahren Ansprechpartnerin für Inklusionsthemen.
Ukrainer sollen unterstützt werden, einen eigenen Verein zu gründen
Neben der Hilfe bei bürokratischen und organisatorischen Belangen wollen die beiden über ein weiteres Projekt Menschen mit Fluchtbiografie und Behinderung aus der Ukraine Unterstützung bei ihrer persönlichen Zukunftsplanung und einen sicheren Ort zum Austausch bieten. Olena Butova hat zudem Kontakt zu (Selbsthilfe-)Gruppen, die sich regional, aber auch bundesweit austauschen und fachliche Referate organisieren, und so die Möglichkeit, auf ein großes Netzwerk zuzugreifen. Ein weiteres Vorhaben, für das das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg einen Zuschuss bewilligt hat: Ukrainegeflüchtete dabei unterstützen, einen eigenen Verein zu gründen.
Nawid Parsa, der vor drei Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet ist, wird sich um Angebote für die Menschen kümmern, die in den beiden Murrhardter Unterkünften – dem Container in der Fritz-Schweizer-Straße und dem ehemaligen Haus Emma der Erich-Schumm-Stiftung – leben. Dazu gehören beispielsweise Bastel- und Malkurse für die Kleinsten. „Das ist sehr wichtig, vor allem für Kinder, die beispielsweise noch keinen Kitaplatz haben.“ Parsa möchte sich dabei auch auf die Suche nach, wie er sagt, Talenten machen, sprich Ehrenamtlichen, die solche Angebote mitverantworten können. Es gibt drei geflüchtete Frauen, die bereits in diesem Sinne aktiv sind. Beim Sprachcafé, das schon zwei Gruppen zählt, besteht die Möglichkeit, Deutsch zu üben. Ein weiterer Ansatzpunkt: Geflüchtete aus Murrhardt und Umgebung ansprechen, die schon länger hier leben und die Menschen in den Unterkünften unterstützen.
Sie können den Neuangekommenen vermitteln, warum beispielsweise ein Sprachkurs oder eine Ausbildung wichtig ist, erklärt Parsa. „Es braucht neben sprachlichen Dolmetschern auch Menschen, die die Kultur übersetzen und erläutern“, ergänzt Jochen Schneider. Als Einrichtungsleiter arbeitet er selbst auch pädagogisch mit jungen männlichen Flüchtlingen – einzeln und in der Gruppe. Ein zentrales Anliegen von Pyramidea ist es, die Menschen, die nach Murrhardt und in die Region kommen, zu unterstützen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und es mitzugestalten. „Es ist wichtig, dass die Menschen eine Verbindung zur Gesellschaft spüren“, sagt Parsa. Dazu will das Zentrum für Vielfalt seinen Beitrag leisten – gemeinsam mit Geflüchteten, die schon ein Stück dieses Wegs zurückgelegt haben, sowie weiteren interessierten Ehrenamtlichen. Die Resonanz ist bereits sicht- und greifbar: „Die Menschen sind glücklich, dass sie hierher ins Zentrum kommen können. Beim Renovieren mitzuhelfen hieß auch, dass sie mitgestalten und sich einbringen können“, so Nawid Parsa.
Projekte für Kinder und zur Auseinandersetzung mit Vorurteilen
Auf der Liste stehen noch zwei weitere Projekte, die in Murrhardt umgesetzt werden, und zwar das für Kinder aus armutsbetroffenen oder -gefährdeten Familien („Alle Kinder mitnehmen“, kurz Akimi) und die lebendige Bibliothek, bei der es um ein besonderes Format der persönlichen Begegnung geht, um sich mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen – ob die einen Geflüchteten, katholischen Pfarrer oder Transmann betreffen. Jochen Schneider ist davon überzeugt, dass diese zwischenmenschlichen Begegnungen auch Dreh- und Angelpunkt für die Integrations- und Inklusionsarbeit sind. Dabei, dass sie entstehen können, kann (ehrenamtliches) Engagement auf beiden Seiten helfen. Wichtig sind aber auch Strukturen wie ein Arbeitsplatz und eine Wohnung, so das Team.
Einladung Das Zentrum für Vielfalt findet sich in der Hauptstraße 7, ganz in der Nähe des Murrhardter Marktplatzes. Wer mehr über die Projekte und Arbeit erfahren möchte, ist eingeladen, am Montag, 26. Februar, zwischen 14 bis 17 Uhr bei einem Nachmittag der offenen Tür vorbeizuschauen. Wer sich für ein ehrenamtliches Engagement interessiert, kann sich bei Jochen Schneider unter jochen.schneider@pyramidea.de melden. Weitere Infos zum Verein und zu den aktuellen Vorhaben inklusive Kontaktadressen gibts im Netz unter http://pyramidea.de.