Streit nach Frauen-Boxkampf

Wie die Geschlechterfrage Olympia spaltet

Zwei Boxerinnen, die noch bei der WM 2023 ausgeschlossen worden waren, sind in Paris auf dem Weg zu Gold. Die Geschlechterfrage spaltet die Olympischen Spiele – und Populisten nutzen den Fall für ihre Zwecke.

Die Debatte um die algerische BoxerinImane Khelif zieht weite Kreise.

© AFP/Mohd Rasfan

Die Debatte um die algerische BoxerinImane Khelif zieht weite Kreise.

Von Jochen Klingovsky

Wenn es nicht so ein ernstes Thema wäre, dann wäre es fast amüsant zu sehen, wer sich plötzlich brennend für die Olympischen Spiele interessiert. Nachdem die algerische Boxerin Imane Khelif in der ersten Runde die Italienerin Angela Carini geschlagen hatte, meldeten sich unter anderem Donald Trump, die AfD und Elon Musk zu Wort. Seht her, lautete ihre Botschaft, in Paris darf ein Mann Frauen verprügeln. Die darauf folgenden Diskussionen in den sozialen Medien trieften vor Häme, Hass und Unwissenheit. Sie gipfelten im nächsten bemerkenswerten Wahlversprechen des US-Präsidentschaftskandidaten. „Ich werde“, erklärte Donald Trump, „alle Männer aus dem Frauensport fernhalten.“

Italiens Ministerpräsidentin Meloni prangert einen „ungleichen“ Kampf an

Dabei ist die Sache, wie so oft, viel komplexer, als es die Populisten suggerieren. Denn es geht bei der Boxerin Imane Khelif ja nicht um einen Mann, der einen Geschlechter- oder Identitätswechsel vornahm, um im Sport größere Erfolgsaussichten zu haben. Zumindest gibt es darauf keinerlei Hinweise. Doch nach einem nicht näher erläuterten Test zur Geschlechtsprüfung war Imane Khelif bei der WM 2023 vom Weltverband IBA disqualifiziert worden. Für das Internationale Olympische Komitee (IOC) steht allerdings fest, dass hier zu Unrecht eine Athletin an den Pranger gestellt wird. „Imane Khelif wurde als Frau geboren, als Frau registriert, sie hat immer als Frau gelebt, als Frau geboxt, und in ihrem Pass steht, dass sie eine Frau ist“, erklärte IOC-Sprecher Mark Adams. „Das ist kein Transgender-Fall. Darüber besteht wissenschaftlich Konsens.“ Zumindest nach Meinung des IOC.

Die Debatte über das Olympia-Startrecht von Imane Khelif in der Klasse bis 66 Kilogramm flammte neu auf, weil Angela Carini nach 46 Sekunden aufgegeben und den Handschlag verweigert hatte: „Ich trainiere mit meinem Bruder. Ich habe immer gegen Männer gekämpft, aber heute hatte ich zu starke Schmerzen.“ Daraufhin prangerte Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni einen „ungleichen“ Kampf an. Zwei Tage später entschuldigte sich Angela Carini, Imane Khelif nicht die Hand gegeben zu haben: „Ich war wütend auf mich selbst. All diese Kontroversen machen mich traurig, es tut mir für meine Gegnerin leid.“

IOC-Präsident Thomas Bach: „Es gab nie Zweifel, dass sie Frauen sind“

Mittlerweile hat Imane Khelif (25) auch das Viertelfinale gewonnen und eine Medaille sicher. Ihr Duell am Samstag mit der Ungarin Anna Luca Hamori gehörte zu den Olympia-Ereignissen mit dem größten Medienaufkommen, in der Mixed-Zone waren Boxkämpfe um die besten Plätze zu beobachten. Geredet hat Imane Khelif aber nur mit dem TV-Sender beIN Sports. „Es ist eine Frage der Würde und Ehre für jede Frau“, sagte sie, „mir ist Unrecht getan worden.“ Und dieses Gefühl entstand nicht erst in Paris.

Imane Khelif und Lin Yu-ting (28/Taiwan), die in der Klasse bis 57 Kilogramm ebenfalls im Olympia-Halbfinale steht, sind bei der WM im März 2023 in Delhi von der International Boxing Association (IBA) nach dem besagten Geschlechtertest ausgeschlossen worden, weil sie die „erforderlichen Teilnahmekriterien nicht erfüllt“ und „im Vergleich zu anderen weiblichen Teilnehmerinnen Wettbewerbsvorteile“ gehabt hätten. Aus Sicht des IOC war dies eine „willkürliche Entscheidung ohne ordnungsgemäßes Verfahren“. Deshalb durften Khelif und Lin in Paris starten. „Es gab nie Zweifel, dass sie Frauen sind“, sagte IOC-Präsident Thomas Bach und warnte vor einem „Kulturkrieg“, der auf dem Rücken der Athletinnen ausgetragen werde. Dabei hat dieser längst begonnen. Und das IOC ist Teil davon.

Es sollen keine Testosteron-Grenzwertdiskussionen mehr geführt werden

Die Herren der Ringe liegen schon länger im Clinch mit der IBA, bei der es diverse Korruptions- und Betrugsfälle gab. Präsident des in Russland sitzenden Boxverbandes ist Umar Kremlew, ein enger Vertrauter von Staatspräsident Wladimir Putin. Kritiker des Verbandes behaupten, die DNA-Tests seien bei der WM 2023 nur vorgenommen worden, um Russlands transfeindliche Politik zu unterstützen und an den Boxerinnen ein Exempel zu statuieren. Weil das IOC die IBA schon länger suspendiert hat, muss es das olympische Boxturnier in Paris selbst ausrichten. Und stößt damit an seine Grenzen.

Im Gegensatz etwa zur Leichtathletik, wo der Weltverband mit seinen eigenen Regeln über Startfreigaben entscheidet – im Falle von intersexuellen Athletinnen gilt beispielsweise ein Testosterongrenzwert, der 24 Monate lang eingehalten worden sein muss –, ist beim Boxen nun also das IOC gefragt. Es hat vor Paris seine Charta angewendet, nach der keine Grenzwertdiskussionen mehr geführt werden sollen. Stattdessen müsse in jedem Einzelfall entschieden werden, ob eine trans- oder intergeschlechtliche Sportlerin einen Vorteil hat oder eine Gefahr für ihre Kontrahentinnen darstellt. Wenn nicht, solle einem Start zugestimmt werden. Ob das bei Imane Khelif und Lin Yu-ting, die beide 2021 in Tokio noch frühzeitig gescheitert waren, zu Recht geschehen ist, darüber wird weiter gestritten werden.

Eine „hässliche Jagd auf Frauen, die nichts falsch gemacht haben“

Sollten die beiden gar Gold gewinnen? Werden noch mehr Leute ihnen öffentlich die Identität als Frauen absprechen, werden sich weiter Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International hinter sie stellen und ein „entsetzliches Maß an Online-Missbrauch“ sowie eine „hässliche Jagd auf Frauen, die nichts falsch gemacht haben“ anprangern, werden Populisten und rechte Politiker weiterhetzen. Und das IOC vielleicht doch noch zur Erkenntnis kommen, dass solche Fälle künftig vor Großevents möglichst eindeutig und nachvollziehbar geklärt werden müssen. Im Wissen, dass es einfache Lösungen für Geschlechterfragen im Sport auch künftig nicht geben wird.

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Erstellt:
4. August 2024, 19:32 Uhr
Aktualisiert:
4. August 2024, 19:44 Uhr

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