Rettung versklavter Jesidinnen

„Nach sechs Monaten im Land trugen manche Frauen Jeans“

Vor zehn Jahren waren sie Sklavinnen des Islamischen Staates. Heute studieren sie oder engagieren sich. Der Therapeut Jan Ilhan Kizilhan hat sie begleitet. Ein Gespräch über eine beispiellose Rettungsaktion Baden-Württembergs.

Jan Ilhan Kizilhan 2015 in einem Flüchtlingscamp im Irak.

© dpa/Stefanie Järkel

Jan Ilhan Kizilhan 2015 in einem Flüchtlingscamp im Irak.

Von Hilke Lorenz

Die Welt konnte fast in Echtzeit zuschauen, wie die Kämpfer des Islamischen Staates im August 2014 einen Völkermord am Volk der Jesiden im Nordirak verübten. Damals entschied der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, über ein Sonderkontingent 1000 Frauen ins Land zu holen. Geleitet wurde das 14-köpfige Team von Michael Blume aus dem Staatsministerium und dem Psychologen Jan Ilhan Kizilhan. Im Gespräch erinnert sich Kizilhan an die Aktion, die Betreuung der Geretteten und sagt, wie glücklich es ihn heute mache, wenn ein ehemaliger Kindersoldat sich nun politisch engagiert oder eine junge Frau nun studiert.

Herr Kizilhan, als der IS am 3. August 2014 ins Gebiet der Jesiden vordrang, war Ihnen schnell klar, dass es außer Flucht keine Überlebensstrategie für die Jesiden geben konnte.

Ja und ich habe mir von Anfang an die Frage gestellt, was geschieht, wenn die Frauen freikommen. In der jesidischen Religion ist es nicht vorgesehen, dass Menschen, die - ob freiwillig oder nicht - sexuellen Kontakt mit Nicht-Jesiden haben, wieder in die Gesellschaft zurückkehren können. Das war die Situation 2014. Ich hatte die Sorge, dass die Frauen, die Schlimmes erlebt haben, auch noch von ihrer eigenen Gemeinschaft ausgegrenzt werden. Für uns gab es bei der Auswahl für das Sonderkontingent drei Kriterien: die Betroffenen mussten in den Händen des IS gewesen sein, eine psychische Erkrankung aufgrund ihrer Gefangenschaft haben. Und wir mussten in der Lage sein, ihnen in Deutschland zu helfen.

Inzwischen haben die Frauen eine große Wegstrecke zurückgelegt. Sie haben sich in einer ihnen völlig fremden Welt ein neues Leben aufgebaut. Ist das eine Erfolgsgeschichte?

Ja. Sie sind nach Deutschland gekommen, kannten die westliche Welt nicht, sie waren schwer traumatisiert. Es gab Frauen, die wussten nicht, wie man einkauft. Manche hatten nie eine Rolltreppe gesehen. Sie mussten verstehen, wie hier das Krankensystem funktioniert. Das ist natürlich belastend. Der Vorteil für die Frauen war, dass wir für sie da waren. Anders als bei vielen Geflüchteten, die auf dem normalen Weg hier Asyl beantragt haben. Sie hatten Dolmetscher und Sozialarbeiter. Sie hatten eine Unterkunft und psychotherapeutische Begleitung. Das Sonderkontingent war schon etwas Besonderes, wenn wir die anderen Geflüchteten sehen, die ich heute noch behandle.

Haben die Frauen aus dem Kontingent die optimale Versorgung bekommen, wie sie alle traumatisierten Flüchtlinge brauchen?

Optimal gibt es nicht, weil es immer noch besser geht. Auch wenn heute die sozialen Einrichtungen sich bemühen, traumatisierten Flüchtlingen zu helfen, ist das natürlich nicht ausreichend. Viele Studien sagen, dass 50 Prozent der Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen, traumatisiert sind. Ich entgegne dann, man kann mit genügend Resilienz lernen, mit schlimmen Erlebnissen umzugehen. Es hängt von der individuellen Verarbeitung ab. Aber bei aller kritischen Würdigung der Datenlage gehe ich dennoch davon aus, dass bei mindestens 20 bis 30 Prozent der Geflüchteten Behandlungsbedarf herrscht. Das kann das Versorgungssystem hier nicht gewährleisten.

Beim Sonderkontingent war es anders.

Wir sind schon, bevor die ersten Frauen kamen, in die aufnehmenden 22 Städte gegangen, haben die Leute informiert, wer die Jesiden sind, haben mit Ärzten und den Mitarbeitern der Verwaltung gesprochen, erklärt, aus welchem Kulturkreis die Menschen kommen. Wenn dann eine Gruppe in Stuttgart aus dem Flugzeug gestiegen ist, stand ein Bus mit einem Arzt, einem Sozialarbeiter und einem Dolmetscher bereit, um sie zu ihren Einrichtungen zu bringen. Das war natürlich ein sehr gutes und durchdachtes System.

Das Konzept ging auf?

Das zeigen die Studien, die wir danach gemacht haben. Die jungen Frauen haben sich relativ schnell angepasst. Je jünger sie waren, desto schneller ging hier die Integration. Sie kamen in schwarzer Kleidung. Und nach sechs Monaten trugen die ersten Frauen zwischen 16 und 23 Jahren Hosen und Jeans. Aber je älter sie waren, desto mehr verharrten sie in ihrem Trauma, weil sie die Kultur so stark verinnerlicht hatten.

War es schwer, die 1000 Frauen zu finden?

Als wir angefangen haben, war der IS auf der Höhe seiner Macht, nur 20, 30 Kilometer von Dohuk entfernt. Aber dann ist immer mehr Frauen die Flucht aus der Gefangenschaft gelungen. Wir haben dann ein Büro eröffnet. Ich habe die medizinischen Untersuchungen gemacht. 1403 Frauen habe ich untersucht. Die Zahl werde ich nie vergessen. Wir hatten den Auftrag, das so schnell wie möglich zu machen und wussten nicht, ob der IS in unserer Richtung vordringt. Ich musste alle sehen und wollte alles richtig dokumentieren. Mir war klar, wir leben in Deutschland und wusste, dass die Frage kommen konnte, ob auch Menschen zu Unrecht gekommen sind. Das Thema war Fairness und Gerechtigkeit. Ich habe manchmal tagelang mit einer Akte unter dem Kopfkissen geschlafen.

Und abgewogen?

Ja, wer braucht mehr Hilfe. Dann haben wir gesagt, wir müssen eine Entscheidung treffen. Wenn wir moral-philosophisch fair sein wollen, dürfen wir gar keine Frau mitnehmen. Wenn wir uns für eine Frau entscheiden, werden wir die andere benachteiligen. Also geht es darum, Leben zu retten. Und jedes einzelne Leben ist wichtig. Vermutlich haben wir jemandem Unrecht getan. Aber dafür haben wir 1000 Menschen das Leben gerettet. Das war unsere Logik. Von morgens um acht Uhr habe ich eine nach der anderen Frau untersucht. Bis ich nicht mehr konnte. Manchmal bis zwölf Uhr in der Nacht. Ich habe jedes Gespräch mit Video dokumentiert. Jeden Abend saßen Michael Blume und ich und ein Beamter oder eine Beamtin zusammen, weil wir das Sechsaugenprinzip haben wollten, und haben entschieden. Ich war immer zwei Wochen vor Ort und dann habe ich in den Städten, die Jesidinnen aufgenommen haben, die Schulungen gemacht.

Haben Sie noch Kontakt zu den Frauen des Sonderkontingents?

Das Projekt ist abgeschlossen. Aber ich habe ja noch eine transkulturelle psychosomatische Praxis in Donaueschingen. Dahin kommt immer mal wieder eine Frau, die durch irgendein Erlebnis getriggert wird. Als neulich ein Massengrab in Mosul mit 13 Leichen gefunden wurde, stand für einige wieder die Frage im Raum, ob Angehörige darunter ist. Das heißt: der Genozid ist noch nicht vorbei. Das ist der stille Genozid, wenn noch immer 300 000 Jesiden in den Camps leben. Sie können nicht zurück in ihre Siedlungsgebiete, weil die Lage unsicher ist. Weder die kurdische noch die irakische Regierung sind an einer Lösung interessiert. So wiederholen sich die Geschichten Ihrer Vorfahren. Seit 2014 haben über 140 000 Jesiden das Land verlassen. Sie wollen nach Australien, nach Amerika, Kanada oder Deutschland.

Was bedeutet das?

Das heißt, eine der ältesten religiösen und ethnischen Gruppen im Nahen Osten beginnt, dieses Land zu verlassen. Das machen die Christen auch und andere Minderheiten. Das heißt, der radikale Islam hat durch IS, durch Al Qaida gewonnen. Wir haben eine starke Islamisierung im Irak, in der Türkei, in Syrien. Die Minderheiten fühlen sich nicht mehr sicher.

Kann man sagen, dass es die meisten Frauen hier geschafft haben?

Ja. Nach meinem Wissen sind nur 15 Frauen zurückgegangen. Die aber eher aus persönlichen Gründen. Weil etwa der Vater wieder aufgetaucht ist. Hier haben viele junge Frauen geheiratet und Kinder bekommen. Neulich habe ich eine junge Frau in Freiburg getroffen, die hat ihr Abi mit 2,2 bestanden und fängt nun an Politikwissenschaften zu studieren und ein anderer studiert bereits Maschinenbau. Ein anderer, der als Kind mit seiner Mutter kam und Kindersoldat war, ist nun in einer Kommune politisch aktiv. Wenn ich die sehe, ist das ein unheimlich schönes Gefühl. Die Zukunft dieser Kinder war völlig unsicher. Wenn sie jetzt im Irak geblieben wären, wären sie weiterhin in den Camps und hätten keine richtige Schulbildung. Das heißt, nach einem Trauma kann man auch wachsen.

Rettungsaktion

PersonJan Ilhan Kizilhan (58) ist Professor für soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Villingen Schwennigen. Er leitet dort das Institut für transkulturelle Gesundheitsforschung. Er hat außerdem an der Universität Göttingen in Neuiranistik und Islamwissenschaften promoviert. Zusammen mit Michael Blume aus dem Staatsministerium war er 14 Mal im Irak, um insgesamt 600 Frauen und 500 Kinder, die zuvor in der Hand des IS waren, nach Baden-Württemberg zu holen.

AktionDie Abwicklung des Sonderkontingents war allein Sache des Bundeslandes Baden-Württemberg. Unter den geretteten Frauen war auch die spätere Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad.

Jesiden Die Jesiden sind eine ethisch-religiöse Gruppe. Sie missionieren nicht. Zugehörigkeit erlangt man nur über die Geburt. Ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet war der Nordirak, Nordsyrien und die südöstliche Türkei. Das Jesidentum ist eine monotheistische, nicht auf einer heiligen Schrift basierende Religion. Im Januar 2023 hat der deutsche Bundestag die Verbrechen des Islamischen Staates an den Jesiden als Völkermord anerkannt.

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Erstellt:
3. August 2024, 19:14 Uhr
Aktualisiert:
4. August 2024, 16:33 Uhr

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