„Nägele entzieht sich einer Einordnung“
Bei der Matinee „Kunst und Kulinarik“ im Rahmen der aktuellen Sonderausstellung in der Murrhardter Kunstsammlung haben Kennerinnen und Kenner über den Umgang der kunsthistorischen Forschung mit dem Murrhardter Maler gesprochen.

Viererrunde mit (von links) Michael Klenk, Gabriele Rösch, Andreas Henn und Carolin Wurzbacher (Moderation), die bei der Matinee in der städtischen Kunstsammlung Murrhardt über die Einordnung von Reinhold Nägele innerhalb der Kunst und sein Leben sowie Werk sprechen. Foto: Elisabeth Klaper
Von Elisabeth Klaper
Murrhardt. Große Resonanz bei vorwiegend auswärtigen Gästen mit Bezug zum Künstler findet die Matinee „Kunst und Kulinarik“, Begleitveranstaltung zur Sonderausstellung „Reinhold Nägele – Das grafische Werk“ im Heinrich-von-Zügel-Saal. Im Zentrum steht das Podiumsgespräch zum Thema „Nägele hoch drei – Perspektiven auf eine Künstlerpersönlichkeit“. Zum Einstieg gibt Moderatorin Carolin Wurzbacher, Kuratorin der Ausstellung, einen kurzen Überblick über Leben und Werk des überaus vielseitigen Malers und Grafikers.
Sie motiviert die Podiumsrunde, von ihren beruflichen und persönlichen Bezügen zum Künstler zu erzählen und auch gemeinsam über das Schaffen von Reinhold Nägele zu reflektieren. „In Murrhardt schlummert ein Schatz“ aus Nägele-Werken, betont Gabriele Rösch, Kuratorin der städtischen Kunstsammlung. 2015, zur Ausstellung in Schwäbisch Gmünd, arbeitete sie sich in dessen Leben und Werk mit immer wieder überraschenden Facetten ein und ist seitdem davon fasziniert. In Stuttgart galt er als „Chronist der Stadt“ und hielt deren Umgestaltung in vielen Bildern fest. Rösch findet es bedauerlich, dass Nägele nicht in den Kanon der Kunstgeschichte passt. Zudem kritisiert sie die Praxis großer Museen, Werke weniger bekannter Künstler nicht an kleine Galerien auszuleihen: So geraten diese in Vergessenheit. „In der kunsthistorischen Forschung, in Standardwerken und Lexika taucht Nägele nicht auf, weil er sich einer Einordnung entzieht“, kritisiert auch der Künstler und Kunsthistoriker Michael Klenk, Leiter der Akademie der Künste Schwäbisch Hall. Indes habe sich etwas verändert: Nun werden Nägele-Werke in überregionalen Ausstellungen gezeigt, die die Kunst in der Weimarer Republik aufarbeiten. Dort sind sie der Neuen Sachlichkeit zugeordnet, damit jedoch erneut der Schubladensystematik unterworfen.
Eine wichtige Rolle für Reinhold Nägele spielte der Kunsthandel, vor allem das Kunsthaus Schaller: Es organisierte dessen erste Ausstellung. Dort war auch der Stuttgarter Galerist Andreas Henn tätig. „Zwischen Kunsthändler Hans Otto Schaller und Nägele bestand eine extrem enge Freundschaft“, erläutert er. Das Kunsthaus verkaufte nahezu exklusiv dessen Bilder. Es ermöglichte 1934 wohl dessen letzte Einzelausstellung und begann nach 1945 wieder mit dem Verkauf von späten Drucken. In der Stuttgarter Gesellschaft und in künstlerisch-literarisch-intellektuellen Zirkeln war Nägele integriert und auch gut vernetzt. „Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, wie stark Stuttgarter Unternehmer und Persönlichkeiten ihn unterstützt haben“, erzählt Henn. So konnte der Künstler auch nach Beginn der nationalsozialistischen Diktatur 1933 noch Werke verkaufen. Dies gab der Familie ein Auskommen, nachdem seine Frau Alice ihre Zulassung als Ärztin verloren hatte. Eine extreme Zäsur und ein enormer biografisch-künstlerischer Bruch war die erzwungene Emigration 1939. Für Reinhold Nägele war New York ein „Schock“: Es fiel ihm schwer, nachdem er alles verloren hatte, in dieser fremden Welt, Kultur und Sprache neu zu beginnen, unterstreicht Gabriele Rösch.
Leider hat man die in der Emigration entstandenen Werke bisher nur selten präsentiert und noch kaum aufgearbeitet. Da gebe es noch viel Luft nach oben, verdeutlicht sie. Nägele arbeitete in der neuen Technik Hinterglasmalerei und setzte sich mit seiner Situation und der neuen Umwelt auseinander. Auffällig sei die „leere Architektur“, so die Kuratorin. Doch nach seiner Rückkehr in die Heimat blieb er bis ins hohe Alter innovativ und produktiv.
An Nägeles Kunst fasziniert Michael Klenk das Menschenbild in vielen erzählerischen, oft humorvollen, ironisch-karikaturistischen Radierungen und spannenden Bildern von emanzipierten Frauen.
Besondere Kleinodien sind die verdichteten, miniaturhaft detaillierten Darstellungen der Exlibris (Bucheignerzeichen) auf nur etwa zehn Zentimeter im Quadrat großen Radierplatten, erklärt Carolin Wurzbacher. Sie zeigen Nägeles „besonderes Gespür, Persönlichkeiten und Charaktere ins Bild zu setzen“, denn „der menschliche Aspekt ist ein wesentlicher Teil seiner Kunst“, verdeutlicht Henn. Es war für den Künstler wohl ein Balanceakt, den Vorstellungen der Auftraggeber gerecht zu werden.
„Exlibris waren eine eigene Kultur in den 1920er-Jahren. Dafür gibt es keinen Markt, aber explizite Sammler und eine sehr spezielle Klientel“, weiß der Galerist. Er vermutet auch, dass Reinhold Nägele Gemälde des Belgiers James Ensor zu Bildern mit symbolistischer Figurenfülle und Masken inspirierten. Die Idee zu der für die Gäste attraktiven Kombination des Podiumsgesprächs mit kulinarischen Leckereien vom Hotel-Restaurant Sonne-Post und Kaffeespezialitäten von „Kleine Auszeit on Tour“ als neues Format hatte übrigens Maren Weller vom städtischen Kulturamt.
Die Sonderausstellung „Reinhold Nägele – das grafische Werk“ ist bis 8. Oktober in der städtischen Kunstsammlung zu sehen.