Spezielle Waage nähert sich der Antwort

Neutrinos auf der Spur: Was wiegt ein Geisterteilchen?

Neutrinos werden auch Geisterteilchen genannt. Aus gutem Grund: Sie sind allgegenwärtig, aber hinterlassen kaum Spuren: Nun haben Forscher ihre Masse bestimmt – mit der genauesten Waage der Welt.

Blick ins Innere des KATRIN-Hauptspektrometers.

© Forschungszentrum Karlsruhe/Michael Zacher/Katrin Coll/dpa

Blick ins Innere des KATRIN-Hauptspektrometers.

Von Markus Brauer/Stefan Parsch (dpa)

Neutrinos gehören zu den rätselhaftesten Teilchen des Universums. Sie sind allgegenwärtig, reagieren aber äußerst selten mit Materie. In der Kosmologie beeinflussen Neutrinos die Entwicklung großräumiger Strukturen, während sie in der Teilchenphysik aufgrund ihrer winzigen Masse als Indikatoren für bisher unbekannte physikalische Prozesse dienen.

Fundamentale Gesetze der Natur verstehen

Die präzise Messung der Neutrinomasse ist daher essenziell für ein vollständiges Verständnis der fundamentalen Gesetze der Natur. Erstmals ist es nun Forschern unter deutscher Federführung gelungen, deren ungeheuer geringe Masse präzise zu bestimmen.

Neutrinos sind winzige, elektrisch neutrale Teilchen, die kaum mit Materie wechselwirken. Ihre Winzigkeit stellt das menschliche Vorstellungsvermögen auf die Probe. Sie sind so extrem leicht und klein, dass man sie auch "Geisterteilchen" nennt. Sie werden unter anderem bei Kernfusionen in Sternen freigesetzt, treten kaum mit Materie in Wechselwirkung und rasen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durchs All.

Im Mittel treffen in jeder Sekunde einige zehn Milliarden Neutrinos auf jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche. Sie können den gesamten Erdball durchqueren, ohne eine einzige Reaktion auszulösen. Das erschwert es ungemein, sie überhaupt aufzuspüren - und noch mehr, ihre Masse zu bestimmen.

Eine Million Mal leichter als Elektronen

Nun hat sich ein internationales Forschungsteam unter deutscher Federführung der Antwort auf die Frage weiter angenähert, wie viel diese Teilchen wiegen:

Demnach besitzt das Neutrino mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Masse, die geringer ist als 0,45 Elektronenvolt (eV). Damit ist es mindestens eine Million Mal leichter als Elektronen, die leichtesten geladenen Elementarteilchen.

Das berichtet das Team um Aleksei Lokhov vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Christoph Wiesinger vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik in der Fachzeitschrift „Science“.

Pinning Down a Ghost Particle: Neutrino Mass Measured with Unprecedented Precision | https://t.co/VmNPTnsQYo — SciTechDaily (@SciTechDaily1) April 10, 2025

Die mehr als 150 Forscher aus sieben Ländern ermittelten diese maximale Masse des Teilchens mithilfe des Karlsruhe-Tritium-Neutrino-Experiments, kurz „KATRIN“: In dieser 70 Meter langen Anlage wird im Vakuum die Energieverteilung beim sogenannten Beta-Zerfall von Tritium gemessen – einem instabilen Wasserstoff-Isotop.

Zur Info: Isotope sind Varianten eines chemischen Elements, die sich in ihrer Masse unterscheiden, weil sie in ihrem Atomkern eine unterschiedliche Zahl Neutronen besitzen.

Bei dem Beta-Zerfall werden jeweils ein Elektron und ein Neutrino freigesetzt. Welche Energie beide zusammen haben müssen, ist bekannt. Wird nun die Energie der Elektronen extrem präzise bestimmt, erlaubt das Rückschlüsse auf die Energie der Neutrinos – und damit auch auf die maximale Masse dieser Teilchen.

Genaueste Waage der Welt

„KATRIN“ wurde 2019 in Betrieb genommen. Die Forschergruppe spricht von der genauesten Waage der Welt. Allerdings muss bei den Versuchen jeglicher Einfluss auf die Neutrino-Masse detailliert untersucht werden, um störende Effekte auf das Resultat auszuschließen – etwa kosmische Strahlung oder das radioaktive Gas Radon, das in Spuren in der Umgebungsluft vorhanden ist.

Im Vergleich zu den letzten „Katrin“-Ergebnissen aus dem Jahr 2022 wurde die Obergrenze für die Neutrino-Masse nun fast um den Faktor zwei gesenkt. Weitere Messungen sollen noch bis Ende 2025 andauern und noch präzisere Daten liefern.

Das nun vorgestellte Ergebnis sei bereits die dritte Verbesserung der Neutrino-Masse durch das „Katrin“-Experiment, schreibt Loredana Gastaldo vom Kirchhoff-Institut für Physik in Heidelberg in einem Kommentar, ebenfalls in „Science“.

Info: Neutrinos

Elementarteilchen Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen und könnten eine wichtige Funktion bei der Bildung des Universums gehabt haben. Sie werden unter anderem bei Kernfusionen in der Sonne freigesetzt und spielen bei radioaktiven Zerfällen von Atomkernen sowie Supernova-Explosionen im Weltall eine Rolle.

Häufigkeit Zudem sind sie überall, sie sind die häufigsten Elementarteilchen im Universum: Allein durch einen Finger strömen jede Sekunde Milliarden von ihnen. Weil sie so gut wie nicht mit ihrer Umgebung wechselwirken, merkt man davon nichts. Auch Planeten wie die Erde stoppen Neutrinos nicht.

Analyse Das macht es schwer, sie zu erfassen. 1930 postulierte der österreichische Nobelpreisträger Wolfgang Pauli erstmals die Existenz der Teilchen. Hintergrund war, dass beim Zerfall von Atomkernen Messdaten für Neutronen und Elektronen nicht zum Grundsatz der Energieerhaltung in der Physik passten. Ein bisschen was fehlte oft.

„Geisterteilchen“ Erst mehr als zwei Jahrzehnte später wurden die Neutrinos dann nachgewiesen und galten lange sogar als masselos. Wegen ungenauer Messapparaturen konnte man bisher auch kaum mehr über Neutrinos sagen. Sie widersetzen sich gewissermaßen der wissenschaftlichen Beobachtung und werden daher auch „Geisterteilchen“ genannt.

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Erstellt:
11. April 2025, 16:20 Uhr

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