Kanzlerkandidatur
Olaf Scholz, Boris Pistorius und die Frage, ob das Unglaubliche passiert
Tritt die SPD mit Boris Pistorius an und nicht mit Olaf Scholz? Dieser Austausch widerspräche der üblichen politischen Logik. Völlig ausgeschlossen ist er aber nicht. Scholz war selbst schon dabei, wie in der SPD Karrieren spektakulär geendet sind.
Von Tobias Peter
Mann beißt Hund“ – das ist eine spektakuläre Nachricht. „Hund beißt Mann“, ist dagegen eher keine. So haben es Generationen von Journalistenschülern gelernt. Das Ungewöhnliche interessiert.
„Die SPD nominiert Bundeskanzler Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten“ – das wäre nach diesem Maßstab eigentlich keine besonders spannende Nachricht. Dennoch fände sie aktuell die größtmögliche Aufmerksamkeit. Denn – wenn man mit Abgeordneten, SPD-Mitgliedern und Menschen, die sich in der Partei gut auskennen spricht – hört man aktuell immer wieder, eigentlich, ja eigentlich müsste Scholz jetzt zum Kanzlerkandidaten nominiert werden. Aber ganz sicher, ob das geschehe, seien sie doch nicht, sagen viele.
Zwei Genossen reden Klartext – mit starker Wirkung
Falls Olaf Scholz die SPD am Ende doch nicht in die Bundestagswahl führen sollte, dann hätten zwei Hamburger Regionalpolitiker bundesdeutsche Geschichte geschrieben. Es ist ein unscheinbares Foto von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, das die beiden Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft im sozialen Netzwerk Instagram hochgeladen haben: ein lächelnder Minister im grauen Anzug, seltsam grünlicher Hintergrund – fast wie eine Autogrammkarte, wenn auch ohne Unterschrift.
Dafür hatte der Text unter dem Bild es in sich: Olaf Scholz habe in den letzten drei Jahren zwar gute Politik gemacht, schreiben die Hamburger SPD-Politiker Tim Stoberock und Markus Schreiber. Er habe es aber nicht geschafft, die Menschen mitzunehmen und Führungsstärke zu kommunizieren. „Wir glauben, dass das negative Bild, dass die Menschen im Land von ihm haben, nicht mehr zu reparieren ist“, erklären die beiden Abgeordneten, die aus der Stadt kommen, in der Scholz früher als Bürgermeister große Wahlerfolge gefeiert hat. „Leider neigen Funktionärskader in allen Parteien dazu, solche relativ simplen Sachverhalte nicht sehen zu wollen.“ Stoberock und Schneider werben also dafür, die SPD solle Pistorius als Kanzlerkandidat aufstellen.
In einer Partei, die mit sich und ihrem Kanzler im Reinen ist, dürfte das eigentlich kaum jemanden interessieren. Da wäre das, was die beiden regionalen Abgeordneten geschrieben hätten, keine Nachricht. Und doch wirken die Worte von Stoberock und Schreiber wie Steine, die – wenn sie einmal auf das Wasser geworfen worden sind – mehrfach auf der Oberfläche aufschlagen. Und immer neue Wellen schlagen. In der Folge äußern sich Politikern aus den Städten und Gemeinden, aber auch erste Bundestagsabgeordnete – mit dem dringenden Wunsch, Pistorius solle die Kanzlerkandidatur übernehmen.
Soll Olaf Scholz oder Boris Pistorius die SPD in die Neuwahl des Bundestags führen? Der Kanzler ist, nach allen politischen Regeln, der logische Kandidat. Die geplante Erzählung für die nun vorgezogene Wahl sollte aus Sicht der SPD-Spitze einem Thema folgen: Scholz bringe die Erfahrung und die Besonnenheit mit, um Deutschland durch schwierige Zeiten zu führen – anders als Unionskandidat Friedrich Merz, dem es an Regierungserfahrung fehle.
Mit wem man gern ein Bier trinken würde
Doch die SPD und der Kanzler hängen nach dem vorzeitigen Scheitern der Ampelkoalition im Umfragetief fest. Pistorius hat es als Verteidigungsminister schnell geschafft, zum beliebtesten Politiker Deutschlands zu werden. In Umfragen liegt er nicht nur vor deutlich vor Scholz, sondern er schneidet vielfach auch besser als Merz ab. Scholz hat – teils aus Nöten in der Koalition, teils aus seinem Naturell – oft verdruckst kommuniziert. Pistorius spricht einfache, klare Sätze. Er kann das Gefühl vermitteln, man würde mit ihm gern auch ein Bier trinken.
Aber kann Pistorius auch Wirtschaft und Soziales, also die Themen, die diesen Wahlkampf dominieren dürften? Und: Wäre es mit seinen herausragenden Umfragewerten womöglich schnell vorbei, falls er tatsächlich Kanzlerkandidat würde? Die Fragen seien berechtigt, geben unter der Hand auch viele zu, die einen Kandidatenwechsel wünschen. Aber: Unterm Strich seien die Chancen mit Pistorius auf jeden Fall besser – und sei es nur für ein Achtungsergebnis, um als Juniorpartner in einer möglichen großen Koalition stärker dazustehen.
Wie ernst die Sache für Scholz ist, lässt sich daran erkennen, dass sich auch der ehemalige Parteichef Franz Müntefering zu Wort meldet. Der knorrige Sauerländer ist noch immer eine Autorität in der Partei. „Kanzlerkandidatur ist kein Spiel, das zwei oder mehr Kandidaten abends beim Bier oder beim Frühstück vereinbaren oder das ein Vorrecht auf Wiederwahl umfasst“, sagt der 84-Jährige, dem Berliner „Tagesspiegel“. Gegenkandidaturen seien selbstverständlich möglich.
Für Boris Pistorius ist klar: Er kann sich nicht von sich aus bewerben – er könnte nur antreten, wenn er von der Parteispitze darum gebeten würde. Und für Olaf Scholz ist klar: Er kann die Wahl gewinnen – und er ist auch der beste Kandidat. Große Selbstzweifel sind nicht seine Sache. Die Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken betonen ihre Unterstützung für Scholz. Doch einen Beschluss des Parteivorstands gibt es noch nicht. Das lässt allen Beteiligten eine Hintertür offen.
Um einen Kandidatenwechsel ohne vollständige Zerwürfnisse zu vollziehen, wäre die SPD auf einen mehr oder weniger freiwilligen Rückzug von Olaf Scholz angewiesen. Esken und Klingbeil sowie Fraktionschef Rolf Mützenich müssten zu dem noch amtierenden Kanzler gehen und ihn dringend darum bitten. Für die Karrierepläne des Niedersachsen Klingbeil nach der Wahl wäre eine Kanzlerkandidatur des Niedersachsen Pistorius nicht hilfreich. Mützenich ist kein Fan von Pistorius, der gesagt hat, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden. Aber Mützenich ist ein Parteisoldat, einer, der harte Entscheidungen treffen kann, falls er es richtig für die SPD findet.
Die SPD ging schon oft ruppig mit Führungspersonal um
Scholz hat selbst aus nächster Nähe miterlebt, wie Karrieren in der SPD innerhalb kürzester Zeit vorbei waren. Er war Zeuge, als seine langjährige Weggefährtin Andrea Nahles vom Vorsitz in Partei und Fraktion vertrieben wurde. „Ich mag dich von Herzen gern“, sagte ein Abgeordneter damals zu Nahles in der Fraktionssitzung, die ihren Sturz einleitete. Aber es sei halt Nahles‘ Tragik, dass sie sich selbst nicht verkauft bekomme.
Und Scholz war dabei, als Martin Schulz innerhalb kürzester Zeit vom Parteivorsitz und allen anderen Plänen zurücktreten musste. Die Empörung an der Parteibasis, dass Schulz – obwohl er das vorher ausgeschlossen hatte – als Außenminister in ein Kabinett von Angela Merkel eintreten wollte, war zu groß. In der Politik entstehen manchmal Dynamiken, die von oben nicht mehr zu kontrollieren sind.
Es wäre eine spektakuläre Nachricht, wenn nicht Olaf Scholz, sondern Boris Pistorius Kanzlerkandidat der SPD würde. Es wäre „Mann beißt Hund“ hoch drei. Doch komplett ausschließen wollen das im politischen Berlin zumindest hinter den Kulissen viele nicht mehr.