Krieg in Nahost
Plünderungen von Hilfskonvois verschärfen den Hunger in Gaza
Fast Hundert LKWs wurden allein am Wochenende laut UN ausgeraubt. Es fehlt in Gaza eine zivile Autorität – außer der Hamas.
Von Mareike Enghusen
Mehl, Reis, Öl, Milchpulver: Es fehlt an allem im umkämpften Gazastreifen. Am Wochenende sollten 109 Lastwagen mit Nahrungsmitteln helfen, das Leid der Zivilisten zu lindern. 98 von ihnen jedoch kamen nie ans Ziel: Sie wurden überfallen, ihre Waren geplündert. UNRWA, das Palästinenserhilfswerk der UN, das einen Teil der Hilfsgüter gesandt hatte, beschrieb den Raub als „einen der schlimmsten“ Vorfälle dieser Art seit Beginn des Krieges vor gut einem Jahr. Die Angreifer benannte UNRWA nicht; in einer Mitteilung warf das Hilfswerk lediglich den israelischen Behörden vor, eine „gefährliche Umgebung“ für die Konvois zu schaffen. UNRWA-Chef Philippe Lazzarini beklagte einen „totalen Zusammenbruch der zivilen Ordnung“ in Gaza.
Güter landen auf dem Schwarzmarkt
Dass dringend benötigte Hilfsgüter für Zivilisten in Gaza geplündert werden, kommt seit Beginn des Krieges immer wieder vor. Mal sind es Berichten zufolge bewaffnete Gangs, die dahinterstecken, mal Männer der Hamas. Die unmittelbaren Opfer der Plündereien sind hungernde Menschen in Gaza: Die humanitären Güter gehen auf diese Weise nicht an jene, die sie am dringendsten brauchen, sondern an diejenigen, die sich die horrenden Preise auf dem Schwarzmarkt noch leisten können. Laut einem Bericht des Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), einer internationalen Initiative investigativer Journalisten, sind die Preise vieler Nahrungsmittel seit Kriegsbeginn um das Zehnfache gestiegen. „Alle beklagen sich, und viele können gar nichts mehr kaufen“, zitiert OCCRP eine achtfache Mutter aus Gaza.
Die Plünderungen wirken sich allerdings auch auf die Machtverhältnisse in Gaza aus: Sie stärken die Position der Hamas. So argumentiert zumindest Grisha Yakubovic, israelischer Experte für die Palästinensergebiete und den weiteren Nahen Osten. „Die Hamas hat kein Interesse daran, den aktuellen Krieg zu gewinnen“, erklärt Yakubovic dieser Zeitung, „denn aus ihrer Perspektive hat sie bereits gewonnen: Die Attacke des 7. Oktobers ist für die Hamas eine historische Errungenschaft. Nun bereitet sie sich auf die Zeit nach dem Krieg vor. Und dafür ist die humanitäre Hilfe so wichtig: Wer das Brot kontrolliert, der kontrolliert die Menschen. Und Hamas will die Menschen kontrollieren, um nach dem Krieg Teil der Lösung für Gaza zu sein.“
In der COGAT-Behörde der israelischen Armee, die für die Koordinierung ziviler Belange in den Palästinensergebieten zuständig ist, war Yakubovic bis 2016 unter anderem mit der Koordinierung humanitärer Hilfe im Gazastreifen und im Westjordanland betraut. Für die Hamas, sagt er, erfüllten die geraubten Lebensmittelspenden noch einen zweiten Zweck: „Für jeden LKW verdienen sie mit den Waren, die sie auf dem Schwarzmarkt verkaufen, 25 000 US-Dollar.“ Am Montag ließ die Hamas allerdings verlauten, sie habe eine Aktion gegen die mutmaßlichen Plünderer durchgeführt und über 20 von ihnen getötet. Es habe sich um „Gangs“ gehandelt, und die Aktion sei nur der Anfang einer größeren Operation gegen Plünderer.
Zwielichtige Rolle der Hamas
Yakubovic zeigt sich nicht überzeugt. Unter den Angreifern vom Wochenende dürften auch einige Kriminelle gewesen sein, sagt er zwar. Doch hinter dem Großteil der Überfälle auf die LKW könne nur die Hamas stecken. „Um einen LKW zu überfallen, braucht man mindestens drei Personen. Bei so vielen LKWs kommt man auf ein ganzes Bataillon.“
Um die Hamas am Plündern der Hilfen zu hindern, argumentiert der Experte, bräuchte es eine alternative palästinensische Autorität in Gaza. Er schlägt dafür die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) vor, die Teile des Westjordanlandes kontrolliert: „Sie ist der einzige Akteur, der die zivile Strategie der Hamas herausfordern kann.“ Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden plädiert schon seit Längerem dafür, die PA nach dem Krieg in Gaza einzusetzen; auch die Bundesregierung hat sich dafür ausgesprochen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat diese Option jedoch wiederholt ausgeschlossen.