Polens größte Fußballelf aller Zeiten im kleinen Murrhardt zu Gast

Die Spieler der Überraschungsmannschaft der Weltmeisterschaft 1974 genießen drei Wochen lang die Herzlichkeit und Kochkunst in der Sonne-Post. Selbst 50 Jahre danach erinnern sich die Gastgeber gerne voller Hochachtung an die Weltklassesportler, deren Karrieren nur der eiserne Vorhang gebremst hat.

Walter Großberger hatte noch viele Jahre nach der Weltmeisterschaft 1974 regelmäßig Briefkontakt mit Spielern und Betreuern aus Polen. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Walter Großberger hatte noch viele Jahre nach der Weltmeisterschaft 1974 regelmäßig Briefkontakt mit Spielern und Betreuern aus Polen. Foto: Stefan Bossow

Von Uwe Flegel

Für wen er die Daumen drückt? Walter Großberger überlegt und sagt dann: „Ich bin neutral.“ Als jemand, der selbst einst bei den sogenannten Amateuren des VfB Stuttgart hochklassig Fußball gespielt hat, gilt für den 91-jährigen Murrhardter im Sport nur ein Motto: „Möge der Bessere gewinnen.“ Erst recht, wenn wie heute ab 18 Uhr mit Polen und Österreich zwei Teams aufeinandertreffen, die beide Verbindungen ins Murrtal haben. Bei der Elf aus der Alpenrepublik ist es deren Backnanger Trainer Ralf Rangnick. Bei den Osteuropäern stammt die Sympathie vom dreiwöchigen Aufenthalt im Hotel Sonne-Post während der Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland. Tage, in denen Großberger vom Ansprechpartner des späteren WM-Dritten zum Freund wurde. Als das polnische Team zum kleinen Finale aufbrach und damit Murrhardt verließ, saß der beruflich als Ingenieur arbeitende VfR-Funktionär mit im Bus nach München.

Extrawürste in Schen Trainingsrasen sind damals nicht nötig

Sehr viele ältere Murrhardter und Anhänger des VfR erinnern sich auch ein halbes Jahrhundert später noch gern an das polnische Gastspiel. Was heute von einem riesigen Medienrummel begleitet würde, war damals fast nur den lokalen Zeitungen eine größere Berichterstattung wert. Die Walterichstadt war für die polnische Nationalelf vor 50 Jahren das, was mittlerweile in der Sprache von Marketing- oder sonstigen Experten als Homeground bezeichnet wird. Und während die Schweizer Elitekicker heute einen fürchterlichen Zustand des extra für ihr Training neu verlegten Grüns im Stadion auf der Waldau beklagen, übte der Goldmedaillengewinner der Olympischen Spiele 1972 in München im Trauzenbachstadion. Selbstverständlich nicht auf einem extra gepflanzten Rasen, sondern auf dem, der davor und danach von den Murrhardter Fußballern beackert wurde.

Völlig anders als heute war in den Siebzigern auch das Verhältnis zwischen Gastgebern und Gästen. Ziemlich ungestört konnten Trainer Kazimierz Gorski und seine Elf ins neben dem Stadion liegende Freibad gehen. Der damalige Schwimmmeister Karl Peters, gleichzeitig beim VfR als Funktionär tätig, berichtete später von einem geradezu freundschaftlichen Verhältnis.

Ursprünglich hätte Schottland in die Sonne-Post kommen sollen

Walter Großberger erzählt: „Ich hatte danach noch viele Jahre regelmäßig schriftlichen Kontakt.“ Stolz zeigt er, der seit über 60 Jahren VfR-Mitglied ist, die Briefe und Postkarten. Dass das polnische Team nach Murrhardt kam, so beliebt war und „mit so viel Liebe und Herzlichkeit“ aufgenommen wurde, wie Torjäger Gregorz Lato noch viele Jahre später bekannte, hat auch ein wenig mit Zufall zu tun. Denn „eigentlich hätte Schottland in die Sonne-Post kommen sollen“, wie Karl Mauser, Neffe der Inhaber Albert und Wilhelm Bofinger, berichtet. Die Gruppenspiele der Schotten fanden aber in Frankfurt und Gelsenkirchen statt. Polen dagegen war in Stuttgart und München am Ball. Auf Vermittlung von Ex-Bundestrainer Sepp Herberger, enger Freund der Bofingers und schon Jahrzehnte zuvor mit seiner Frau Eva oft Gast, kamen sie in die Sonne-Post.

Schon Sepp Herberger schätzte 1950 mit der DFB-Elf die Qualitäten der Sonne-Post

Die Polen waren nicht die erste Nationalmannschaft in Murrhardt. Hier hatte Herberger schon 1950 als Bundestrainer seine 19 Auserwählten um die späteren Weltmeister Fritz und Ottmar Walter sowie Toni Turek, Berni Klodt und Max Morlock aufs erste deutsche Länderspiel nach dem Zweiten Weltkrieg vorbereitet. Das gewann das DFB-Team in Stuttgart dank eines Elfmetertores von Herbert Burdenski gegen die Schweiz mit 1:0. Überhaupt war der Gasthof damals ein Treffpunkt für Prominenz aus Gesellschaft, Schauspiel, Musik und Politik. So war die Sonne-Post nur rund sechs Wochen nach dem Zweiten Weltkrieg Schauplatz der sogenannten Landrätekonferenz. Für Wilhelm Keil, sozialdemokratisches Urgestein und Tagungsteilnehmer aus Ludwigsburg war sie „die Geburtsstätte der neuen schwäbischen Demokratie“.

Für die Überraschungsmannschaft unter den insgesamt 16 Teams der Weltmeisterschaft 1974 war sie schlicht und einfach die Basis, um die sogenannten Großen zu ärgern. Denn so willkommen die Fußballer aus Warschau, Krakau oder Mielec im Schwäbisch Fränkischen Wald auch waren, auf dem Zettel hatte sie keiner. Dabei hatte das Team um Klassetorwart Jan Tomaszewski, Kapitän und Spielmacher Kazimierz Deyna sowie Gregorz Lato in der Qualifikation England rausgeschmissen. Trotzdem konnte es passieren, dass vom 10:0-Sieg in einem Testspiel gegen Murrhardt im Trauzenbachstadion kein einziger Torschütze überliefert ist. Großberger erklärt: „Das war nur so ein Trainingsspiel.“ Eines, von dem keiner groß Notiz nahm.

Erst bei der Wasserschlacht von Frankfurt wird das Furoreteam gestoppt

Dafür sorgte Polen bei der WM für Furore. In der Vorrunde wurden der Reihe nach Argentinien (3:2), Haiti (7:0) und Italien (2:1) besiegt. In der Zwischenrunde mussten erst die Schweden (1:0) und danach Jugoslawien (2:1) Polens Überlegenheit anerkennen. Für den späteren Weltmeister Paul Breitner steht fest: „Die beste Mannschaft bei der WM waren weder die Niederlande noch wir, das war Polen.“ Das aber scheiterte bei den Titelkämpfen ohne Viertel- und Halbfinale im entscheidenden Zwischenrundenspiel an Deutschland. Als „Wasserschlacht von Frankfurt“ ging eine Partie in die WM-Geschichte ein, die unter irregulären Bedingungen stattfand und der DFB-Elf den Weg zum 2:1-Finalsieg gegen Johan Cruyff und die Niederlande ebnete. Franz Beckenbauer bekannte Jahre danach: „Unter normalen Bedingungen hätten wir wahrscheinlich keine Chance gehabt.“

Eine Mannschaft gespickt mit Klassefußballern

Das hatte seinen Grund vor allem darin, dass Polen damals über einige Spieler der Qualität verfügte, die dort heute nur noch ein Robert Lewandowski verkörpert. In Murrhardt waren drei Wochen lang Fußballer der Kategorie Weltstar zu Gast. Nur dem Kalten Krieg in jenen Jahren und der Abschottung der Länder des Warschauer Pakts ist es geschuldet, dass nicht die halbe polnische Nationalelf bei den Topteams in Madrid, Mailand oder München spielten. Akteure wie Tomaszewski, Deyna, Jerzy Gorgon, Wladyslaw Zmuda, Henryk Kasperczak und das wohl beste Sturmtrio der WM mit dem pfeilschnellen Torschützenkönig Lato (7 Treffer), Andrzey Szarmach (5) und Linksaußen Robert Gadocha durften erst nach dem 30. Lebensjahr in den Westen.

Vielleicht ist auch das der Grund, weshalb es zwischen Polen und den Schwaben im Murrtal so gut klappte. Hier im kleinen Murrhardt genossen die Großen des Weltfußballs für damalige osteuropäische Verhältnisse viele Freiheiten. Das bewies Gorski auf seine Art. Als aus der Heimat eigens ein Koch geschickt werden sollte, damit nichts ins Essen kommt, was dort nicht rein soll, lehnte der Trainer das Ansinnen der Apparatschiks ab. Er vertraute auf die Kochkunst der Bofingers in der Sonne-Post, der Gastfreundschaft der Murrhardter im allgemeinen und der Ansprechpartner wie Walter Großberger im besonderen.

Die polnische Nationalelf war gern gesehener Gast im Hotel Sonne-Post und wurde „mit viel Liebe und Herzlichkeit“ aufgenommen. Archivfoto

© Michael Mauser

Die polnische Nationalelf war gern gesehener Gast im Hotel Sonne-Post und wurde „mit viel Liebe und Herzlichkeit“ aufgenommen. Archivfoto

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Erstellt:
21. Juni 2024, 06:00 Uhr

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