Protestwelle als Wendepunkt

Noch hält Iran die Bevölkerung mit Gewalt in Schach – doch die Islamische Republik hat abgewirtschaftet.

Von Eidos Import

Die Islamische Republik Iran wurde vor 45 Jahren nach einem Aufstand gegen die Gewaltherrschaft des Schahs gegründet. Sie versprach den Bürgern mehr Freiheit und Würde, doch heute hält das Regime die Bevölkerung selbst mit Gewalt in Schach, weil es um seine Macht fürchtet. Die Protestwelle vom September 2022 nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini war ein Wendepunkt in dieser Entwicklung: Seit damals klar wurde, wie viele Iranerinnen und Iraner das theokratische System ablehnen, kann die Führung in Teheran nur noch versuchen, auf Zeit zu spielen. Doch die Kluft zwischen Volk und Herrschenden ist nicht mehr zu überbrücken.

Sichtbar wurde das zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen im Juli, bei denen rund 60 Prozent der Wähler zu Hause blieben. Der neue Präsident Massud Peseschkian kann keine einschneidenden Veränderungen durchsetzen, weil er im dualen Regierungssystem der Theokratie unter Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei nur die zweite Geige spielt. Peseschkian hat nicht die Macht, die Kopftuchpflicht für Frauen abzuschaffen oder mehr Kritik am Regime zu erlauben, um den Iranern ein Ventil für ihre wachsende Unzufriedenheit zu geben. Selbst bei der Bekämpfung der Korruption muss sich Peseschkian vorsehen, damit er nicht mächtigen Gruppen im Staat auf die Füße tritt. Khamenei lässt den Präsidenten nur so lange gewähren, solange er sich in dem engen Rahmen bewegt, den die Geistlichkeit ihm setzt. Politische Umwälzungen sind vorerst ausgeschlossen.

Auf mittlere und lange Sicht sieht es anders aus. Wenn der 85-jährige Khamenei amtsunfähig wird oder stirbt, steht die Islamische Republik vor einem Generationswechsel, den sie bisher meidet. Jeder zweite der rund 90 Millionen Iraner ist jünger als 35 Jahre und weiß dank Internet und Smartphones, wie es in anderen Ländern aussieht. Viele fragen sich, warum sie in einem armen, international isolierten Staat mit Kopftuchpflicht und Tanzverbot leben müssen. Das Regime hat darauf keine überzeugenden Antworten. Wer kann, verlässt das Land und sucht sein Glück im Westen. Der Iran verliert dadurch jedes Jahr tausende Ärzte und andere Fachkräfte.

Zwei Jahre nach den Massendemonstrationen, die mit dem Tod von Mahsa Amini am 16. September 2022 nach ihrer Festnahme wegen eines zu lockeren Kopftuches begannen, regt sich nun wieder vermehrt Widerstand im Iran. Es gibt Streiks und Proteste. Peseschkian will den Iranern mehr wirtschaftlichen Wohlstand bieten, was durchaus im Sinne des Regimes ist. Der neue Präsident hat sich mehrmals als Gefolgsmann von Khamenei und Anhänger der Islamischen Republik bezeichnet. Er bekennt sich offen dazu, dass er Khameneis Vorgaben folgen will. Peseschkian ist kein Revolutionär, sondern ein systemtreuer Reformer, der hier und da Dinge verändern will, ohne die Theokratie in Frage zu stellen.

Das zeigt sich auch in den Umrissen seiner Außenpolitik, die zwei Monate nach seiner Wahl erkennbar werden. Peseschkian strebt ein neues Atomabkommen mit dem Westen an, um die iranische Wirtschaft von den Sanktionen zu befreien, aber er bleibt bei der Feindschaft gegen Israel und bei der Unterstützung für Gruppen wie die Hisbollah und die Hamas.

Peseschkian könnte zum Konkursverwalter des islamistischen Systems werden. Die Protestwelle von 2022 führte dem Regime und seinen Gegnern vor Augen, wie stark die Abneigung der Bürger gegen die Theokratie ist. Auch wenn Khameneis Regime derzeit noch die Oberhand hat, ist seit dem Protest-Herbst vor zwei Jahren für alle zu sehen: Die Islamische Republik hat abgewirtschaftet.

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Erstellt:
15. September 2024, 22:14 Uhr
Aktualisiert:
16. September 2024, 21:59 Uhr

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