Leben mit Behinderungen
Psychische Leiden: Unsichtbar und unbekannt
Chronische und psychische Erkrankungen sind oft unsichtbare Behinderungen. Experten fordern mehr Aufmerksamkeit und kritisieren die schleppende Umsetzung inklusionspolitischer Vorhaben.
Von Markus Brauer/dpa
Nicht jede Behinderung ist auf den ersten Blick erkennbar. Doch gerade unsichtbare Beeinträchtigungen wie chronische Erkrankungen oder psychische Störungen schränken viele Betroffene stark ein. Darauf weisen Experten vor dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am Dienstag (3. Dezember) hin – und fordern größere Anstrengungen von der Politik.
Hartnäckige Stereotype weit verbreitet
Beim Thema Behinderungen haben viele Menschen vermutlich spontan das Bild von einem Menschen im Rollstuhl oder mit einem Blindenstock vor Augen. Dabei ist das Spektrum an Behinderungen viel breiter. „Menschen mit Behinderung sind keine homogene Gruppe“, sagt Dorothee Czennia vom Deutschen Behindertenrat (DBR). Entsprechend unterschiedlich seien die Barrieren im Alltag.
Das unterstreicht auch Jürgen Dusel, der Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen: „Behinderungen können vielfältig sein, was auch bedeutet, dass Barrierefreiheit nicht immer nur mit einer Rollstuhlrampe hergestellt ist, das ist ein Stereotyp.“
Psychische Behinderungen: Unsichtbar und wenig bekannt
„Weniger bekannt sind vor allem die unsichtbaren Behinderungen, zum Beispiel aufgrund von chronischen Erkrankungen und psychischer Beeinträchtigungen“, betont Dussel.
Tatsächlich können auch Diabetes, Allergien, Asthma, psychische Störungen, Suchterkrankungen, Krebs, Diabetes, ME/CFS, Long Covid, Umwelterkrankungen, Parkinson, Multiple Sklerose, Demenz, Schwerhörigkeit, ADHS, Legasthenie, Inkontinenz und viele weitere Erkrankungen eine Behinderung darstellen und als solche anerkannt werden.
Besonders psychische Behinderungen haben laut Teilhabebericht der Bundesregierung in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. „Viele Betroffene sind stark in der Teilhabe eingeschränkt: im Arbeitsleben, am Wohnungsmarkt, bei Freizeitaktivitäten“, erklärt Katarina Stengler von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
„Die Person ist nicht behindert, sie wird behindert“
Dabei ist nicht jede körperliche oder psychische Funktionsstörung gleich eine Behinderung. Im Dritten Teilhabebericht der Bundesregierung ist zunächst nur von „Menschen mit Beeinträchtigungen“ die Rede. Erst durch Barrieren in der Umwelt entstehe eine Behinderung. „Die Person ist nicht behindert, sie wird behindert“, heißt es in dem Bericht.
Inklusion-Vorhaben auf die lange Bank geschoben
Behindertenbeauftragter Dusel sieht beim Abbau von Barrieren auch die Politik in der Verantwortung. Viele inklusionspolitische Vorhaben seien auf die lange Bank geschoben worden und nun dem Ampel-Aus zum Opfer gefallen, darunter wahrscheinlich auch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes. Mit dem Gesetz sollten etwa private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen verpflichtet werden, Barrieren abzubauen.
„Bei den für die Politik wichtigsten Vorhaben, von denen man nun immer hört und liest, finden die inklusionspolitischen Vorhaben leider keine Erwähnung“, kritisiert Dusel. „Das ist wirklich ärgerlich und spiegelt sich natürlich auch insgesamt in der Wahrnehmung der Bevölkerung wider.“
Info: Depression – ein komplexes Krankheitsbild
Häufigkeit Die Depression ist weltweit die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass bis zu vier Millionen Deutsche davon betroffen sind und fast zehn Millionen Menschen in Deutschland bis zum 65. Lebensjahr schon einmal eine Depression erlitten haben. Viele Erkrankungen werden nicht als solche erkannt und richtig behandelt.
Rezidivierende Störungen Depressive Störungen äußern sich in Zuständen seelischer Niedergeschlagenheit. Die Diagnose erfolgt nach Symptomen und Verlauf. Die Psychiatrie trennt zwischen depressiven Episoden und immer wiederkehrenden (rezidivierenden) Störungen, deren Schwere variieren kann. Laut der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) unternimmt etwa jeder vierte Betroffene in seinem Leben einen Suizidversuch. Rund 15 Prozent der Erkrankten würden daran sterben.
Bipolare Störung Extreme Stimmungsschwankungen sind typisch für die manisch-depressive Erkrankung, die auch als bipolare Störung bezeichnet wird. Zwischen den Polen Manie und Depression besteht ein breites Spektrum unterschiedlicher Symptome. Mal sind die Betroffenen niedergeschlagen und haben das Gefühl, wertlos zu sein, mal neigen sie zur Rastlosigkeit und zu Selbstüberschätzung.
Dauer Depression und Manie erweisen sich folglich als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wie man in der manischen Phase im Zeitraffertempo durch den Tag getrieben wird, so tritt man in der depressiven Phase im Zeitlupentempo auf der Stelle und versinkt in Schwermut. Unbehandelt können Depressionen Tage und Wochen andauern, mitunter auch mehrere Monate oder Jahre. Meist klingen die Symptome nicht plötzlich, sondern wellenförmig ab.
Therapie Menschen mit einer manisch-depressiven Erkrankung stehen unter großem und permanentem Leidensdruck. Häufig geht der Arbeitsplatz verloren oder es zerbricht die Partnerschaft. Unbehandelt kann die Krankheit Wochen, Monate oder noch länger andauern. In der Regel klingen die Symptome nicht plötzlich ab, sondern verlaufen wellenförmig.
Medikation Zur Behandlung wird ein breites Spektrum an Psychotherapien und Medikamenten (sogenannte Antidepressiva) eingesetzt. Nachdem Ursachen und Verlauf der Erkrankung geklärt sind, werden vom Facharzt Antidepressiva verschrieben und/oder eine verhaltenstherapeutische oder tiefenpsychologische Gesprächstherapie verordnet. Depressionen lassen sich nicht durch pure Willenskraft überwinden, sind aber gut behandelbar. Auch hier ist eine Kombination aus medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung am effektivsten.