Rauschendes Finale
In ihrer Kandidatenrede erfindet sich die US-Vizepräsidentin Kamala Harris neu.
Von Eidos Import
Kamala Harris hat auf dem Parteitag der Demokraten den Wandel von der Stellvertreterin eines unbeliebten Präsidenten zur neuen Hoffnungsträgerin mit Strahlkraft vollzogen. Zum Finale des Parteitags stand eine starke Frau vor der Nation, die keinen Zweifel daran ließ, die erste Präsidentin in der Geschichte der USA werden zu können.
Die frischgekürte Kandidatin der Demokraten reitet auf einer Begeisterungswelle, deren enorme Energie über die vergangenen Tage im United Center von Chicago zu spüren war. Barack und Michelle Obama fühlten sich an den „Vibe“, also an die Stimmung von 2008 erinnert und setzten sie als politische Erbin ein. Eine Wahl der 59-Jährigen im November, deren Mutter aus Indien und deren Vater aus Jamaika stammt, wäre so historisch wie die des „Yes-We-Can“-Präsidenten Weshalb die Idee nicht so weit hergeholt scheint, in ihr die weibliche Reinkarnation Obamas zu sehen.
Genau wie dieser legt sich Kamala Harris ungern auf das Kleingedruckte fest. Ihre Kandidatenrede beim Parteitag war schwach an Details, aber stark im Prägen von Narrativen. Das Gegenteil von Hillary Clintons Wahlkampf, die für jedes Thema ein Positionspapier hatte, aber die Menschen nicht mitnehmen konnte. Harris verzettelte sich nicht in Wahlversprechen, für deren Umsetzung sie Mehrheiten im Kongress bräuchte. Die Kandidatin hat verstanden, dass es mehr darum geht, die Richtung anzuzeigen.
In ihrer Rede positionierte sich Harris konsequent als Kandidatin, die einen „neuen Weg nach vorn“ verspricht. Die frenetischen „Wir gehen nicht zurück“-Sprechchöre stehen für die „Vorwärts“-Kampagne, mit der Harris in den kommenden 75 Tagen eine Rückkehr Donald Trumps verhindern will und ihren 78-jährigen Kontrahenten zum Mann von gestern macht.
Die Vizepräsidentin nutzte die Chance, sich glaubwürdig neu vorzustellen – als jemand, der nicht nur über die Mittelklasse redet, sondern in ihr aufgewachsen ist. Als jemand, der bei McDonald’s Geld für das Studium verdiente und sich als Staatsanwältin, Justizministerin und Senatorin von Kalifornien für Benachteiligte eingesetzt hat.
Sie zog einen scharfen Kontrast zu der „Projekt 2025“ genannten Blaupause Donald Trumps für den autokratischen Umbau der USA in einer zweiten Amtszeit. Seiner düsteren Rhetorik von einem amerikanischen Blutbad setzte sie die optimistische Vision eines neuen Patriotismus gegenüber, der die Menschen zusammenbringt.
Nebenbei reklamierte sie den Anspruch der Demokraten, die Garanten persönlicher Freiheiten zu sein: bei der Entscheidung über den eigenen Körper, das eigene Leben und gegen den übergriffigen Staat. Es ist kein Zufall, dass das Lied der amerikanischen Sängerin Beyoncé „Freedom“ – zu Deutsch: Freiheit – zu Harris Wahlhymne avancierte.
Sie positioniert sich zudem als standfeste Verteidigerin der Demokratie in den USA und der Welt, die instinktiv begreift, dass es bei dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch um Amerikas Sicherheit geht. Sie legte ein klares Bekenntnis zur Nato ab – und setzte sich klar von dem Diktatoren-Bewunderer Trump ab.
In Chicago erlebten die Amerikaner eine Kamala Harris, die sich als fröhliche Kriegerin neu erfunden hat. In erstaunlichem Tempo hat sie die Partei zu ihrer gemacht, geeint und für Republikaner, die sich nicht mit Trump anfreunden können, geöffnet. Sie hat die nagenden Selbstzweifel durch strotzendes Selbstbewusstsein ersetzt. Das rauschende Finale des Parteitags gibt der „Vorwärts“-Kandidatin Rückenwind für die heiße Phase. Gewonnen sind die Wahlen im November damit nicht. Aber die Energie der „Kamalamania“ ist ein guter Anfang.