Reise durch Europas Klangreichtum

Christoph Bossert präsentiert virtuos die Möglichkeiten der neuen Stadtkirchenorgel beim zweiten Einweihungskonzert

Eine Sternstunde der Orgelmusik, in der sich ein ganzes Universum aus Klangfarben und Kombinationsmöglichkeiten der Register und Effekte entfaltete, war das zweite Einweihungskonzert der neuen Königin der Instrumente in der Murrhardter Stadtkirche.

Christoph Bossert in seinem Element. Der Kirchenmusikdirektor erläuterte auch Wissenswertes rund um die Orgelmusikgeschichte. Foto: E. Klaper

Christoph Bossert in seinem Element. Der Kirchenmusikdirektor erläuterte auch Wissenswertes rund um die Orgelmusikgeschichte. Foto: E. Klaper

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Dabei stellt der Würzburger Hochschulprofessor und Kirchenmusikdirektor Christoph Bossert in vier thematischen Kurzkonzerten mit Erläuterungen das außerordentlich breite Klangspektrum der Mühleisenorgel einer großen Zuhörerschar vor. Zum Auftakt macht Bossert in reizvollen Improvisationen die unterschiedlichen Klangfarben der Orgel hörbar. Zudem interpretiert er klangnuancenreich die festliche Toccata F-Dur von Johann Sebastian Bach. Im Zentrum stehen drei europäische Klangstile, die sich seit dem Spätmittelalter entwickelten und die der Orgelmusikexperte mit Kompositionen aus verschiedenen Ländern verdeutlicht.

„In Italien blieb der traditionelle Orgelstil des Prinzipalklangs bis ins 19. Jahrhundert kontinuierlich erhalten“, so Bossert. Dies zeigt er an der feierlichen Toccata prima von Girolamo Frescobaldi (1583 bis 1643) auf, der unter anderem Organist am Petersdom in Rom war. Darin wechseln sich virtuos gestaltete Akkorde und Läufe mit typisch italienischen barocken Melodieelementen und verspielten Figuren ab. Charakteristisch für Westeuropa sei die „Faszination für den Zungenklang“, also für Register, die wie Blasinstrumente klingen.

Ausgehend vom Orgelbauzentrum in der niederländischen Region Brabant reiche dieser Klangstil bis nach Spanien und Norddeutschland. Dabei zeichne sich Orgelmusik aus dem Süden durch brillante, schmetternde Klänge aus. Dies brachte der Professor schön zur Geltung in „Passacalles de primo tono“ von Juan Cabanilles (1644 bis 1712), Organist an der Kathedrale zu Valencia (Spanien). Passacaglien sind Werke aus Variationen über ständig wiederkehrende Bassmelodien. Cabanilles baut gleichsam diverse Zungenregister aus verschiedenen Tonhöhe-Ebenen harmonisch aufeinander, um eingängige Melodien elegant mit vielfältigen Verzierungen und Figuren zu variieren.

Vielschichtig und stimmungsvoll wirkt das dreiteilige Werk „Offertoire sur les Grands Jeux“, eine liturgische Musik zur Bereitung der Gaben Brot und Wein für die Wandlung in der Heiligen Messe, von François Couperin (1668 bis 1733), Organist an der Kirche St. Gervais in Paris. Darin verbinden sich graziöse und kraftvolle, warme Zungenregister, die anmutig harmonisch, rhythmisch und mit einer Fuge gestaltet sind. Die Vorliebe Norddeutschlands für Soloregister, die wie eine Stimme klingen, illustriert der Professor mit dem kurzen, reich verzierten Stück „Vater unser im Himmelreich“ von Heinrich Scheidemann (1596 bis 1663), Organist an der Kirche St. Katharinen in Hamburg. Darin umrahmen weiche, warme Klangnuancen die helle, klare „Singstimme“.

In Süd- und Mitteldeutschland sowie im Habsburger Reich setzte sich laut Bossert Ende des 17. Jahrhunderts eine neue, revolutionäre Idee durch: die Mischung verschiedener Register für verfeinerte, subtil schattierte Klangfarben.

Im 17. Jahrhundert setzt sich die Mischung von Registern durch

„Dieser Stil führt zur Musik Bachs und zur Sinfonik im 19. Jahrhundert“, erklärt der Orgelvirtuose. Dazu interpretiert er drei in Klang und Charakter überaus facettenreiche Werke von Johann Pachelbel (1653 bis 1706), der unter anderem in Stuttgart und Nürnberg Organist war: eine jubilierende und eine andächtige Toccata sowie die beschwingte Aria Tertia mit anmutiger Kantilene.

Höhepunkte des Konzerts sind auch ausgewählte Werke Johann Sebastian Bachs (1685 bis 1750). Dazu erläutert Christoph Bossert, wie er durch Motiv- und Taktzahlanalyse die auf Gottes Wort bezogene Musiksprache des genialen Tonkunstmeisters erforscht hat. So stehen im „Wohltemperierten Klavier“ Teil I je drei Präludien und Fugen in den Tonarten f, fis, c und h, die das Wort „Fisch“ bilden, das Symbol für Christus ist. Sie seien verknüpft durch ein Kadenzmotiv, das sich auf den Kernsatz in Vers 22 von Psalm 118 bezieht: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden“.

In majestätischen und jubilierenden, aber auch ernsten, gedankenvollen Klangbildern sowie in kunstvoll gestalteten, reich verzierten melodischen und harmonischen Strukturen bringt der Professor mit ausgeklügelter Registrierung die „große Predigt“ des „Fünften Evangelisten“ in voller Schönheit zur Entfaltung. Zudem interpretiert er drei feierliche, andächtige Choräle verschiedenartigen Charakters aus zwei Sammlungen. Den krönenden Schlusspunkt bildet die monumentale, klangprächtige Passacaglia c-Moll mit fantasievoll ausgearbeiteten Variationen.

Im abschließenden „Notturno“ fasziniert der Kirchenmusikdirektor den „harten Kern“ der Orgelmusikfreunde mit zwei romantischen Werken von größter Klangfülle. Dabei verwandelt er das Instrument gleichsam in ein Sinfonieorchester und lotet die tiefsten und höchsten, leisesten und lautesten Klänge aus. Virtuos spielt Christoph Bossert mit den Registern, besonders der Solo-Klarinette, Kombinationsmöglichkeiten und Effekten in Franz Schuberts (1797 bis 1828) Klaviersonate B-Dur. Diese komplexe Komposition mit idyllischen und walzerartig beschwingten, aber auch wehmütigen und dramatischen Passagen hat er für die Orgel bearbeitet, wozu ihn die frühromantische Walcker-Orgel in Hoffenheim inspirierte.

Einfach hinreißend bringt der Orgelvirtuose Max Regers (1873 bis 1916) grandiose Fantasie über den Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ zum Ausdruck. Tiefe, düster und mystisch wirkende Klänge stellen die Finsternis dar, zarte und helle Töne das Licht, wobei die Choralmelodie erst allmählich zum Vorschein kommt. Aber dann zieht Bossert nach und nach (fast) alle Register, nutzt den Schweller, um verschiedene Lautstärken zu gestalten, und erzeugt raffinierte Schwebungseffekte. Nach der Fuge in romantischer Tonsprache erfüllt das volle, bombastische Klangfarbenspektrum der Orgel die ganze Kirche.

Mit stehenden Ovationen und euphorischem Applaus danken die Zuhörer Christoph Bossert für das eindrucksvolle Hörerlebnis.

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Erstellt:
15. Mai 2019, 06:00 Uhr

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