Streit um zuckerkranke Schülerinnen
Riss in der heilen Waldorf-Welt
Familie Weber war überzeugt von der Waldorf-Pädagogik. Aber als ihre Töchter an Diabetes erkranken, kommt es zum Zerwürfnis: Die Eltern sehen sich von der Mainzer Waldorfschule gemobbt und verleumdet. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft.

© AdobeStock/Habrovich
Kinder, die an Diabetes leiden, müssen ihr Handy nutzen dürfen, weil der Blutzucker über eine App überwacht wird. <a href="/inhalt.dubiose-smartwatches-diese-uhren-messen-vieles-nur-nicht-den-blutzucker.993ce757-fe10-47f6-88b9-733a72e777ee.html" target="_blank"></a>
Von Harald Czycholl
Wer sein Kind auf eine Waldorfschule schickt, erhofft sich davon, die individuelle Entwicklung seines Kindes zu fördern – ohne Normierung und Leistungsdenken. „Freie Waldorfschulen sehen als Schulen ohne Auslese, Sonderung und Diskriminierung ihrer Schülerinnen und Schüler alle Menschen als frei und gleich an Würde und Rechten an“, heißt es in der „Stuttgarter Erklärung“ des Verbands Freier Waldorfschulen. Mit Astrid Lindgrens heiler Welt „Bullerbü“ werden Waldorfschulen deshalb gerne verglichen.
Im krassen Widerspruch dazu stehen offenbar Erlebnisse, die eine Familie aus Ingelheim am Rhein an der Freien Waldorfschule Mainz machen musste. „Die Schule hat alle Register gezogen, um uns rauszumobben“, klagt Vater Lars Weber*. Dabei lief zunächst alles gut: Weber entwarf eine neue Schulwebseite, seine Frau unterrichtete dort ein Wahlpflichtfach – Elternmitarbeit ist an Waldorfschulen ausdrücklich erwünscht. Doch das Klima änderte sich, als die beiden Kinder, die damals die erste und dritte Klasse besuchten, im Herbst 2022 nach einem Infekt an Diabetes Typ 1 erkrankten.
Diabetes-Kids: Betroffene können ganz normale Schule besuchen
Diabetes Typ 1 ist eine chronische Autoimmunerkrankung, bei der die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse dauerhaft geschädigt sind. Sie erfordert eine komplexe Therapie, bei der der Blutzucker der Betroffenen regelmäßig kontrolliert und durch Insulinspritzen reguliert werden muss – Gefahr droht bei zu hohen oder zu niedrigen Blutzuckerwerten.
„Menschen mit Typ 1 Diabetes können ein vollkommen normales und gesundes Leben führen, wenn sie einige Regeln befolgen“, erklärt Michael Bertsch von der Initiative Diabetes-Kids. „Betroffene Kinder können eine ganz normale Schule besuchen, wenn die Lehrer gewillt sind, ein wenig mit auf den Diabetes zu achten.“
Genau daran haperte es offenbar an der Waldorfschule Mainz: Denn Kinder mit Diabetes benötigen im Unterricht einige Sonderrechte, um ihre Erkrankung zu managen. So müssen sie beispielsweise ihr Handy nutzen dürfen, weil der Blutzucker über eine App überwacht wird. Zugleich müssen die Lehrer wissen, was zu tun ist, wenn ein Kind unterzuckert ist. Dazu sind genaue Absprachen zwischen Schule und Elternhaus notwendig. Doch als die Eltern über den Umgang mit der Erkrankung ihrer Töchter sprechen wollten, seien sie auf Widerstand gestoßen. „Wir wollten eine gute Kommunikation mit der Schule. Von der Schulleitung war dies jedoch nicht gewünscht“, berichtet Weber. Monatelang habe sich die Schule geweigert, die Gabe eines Notfallmedikaments als verpflichtend anzusehen und das Kollegium entsprechend zu informieren.
Eva Thömmes, Lehrerin und Mitglied der Schulführung der Freien Waldorfschule Mainz, spricht hingegen von „hysterischen Forderungen“ der Eltern und hält dagegen: Die Kommunikation sei stets professionell abgelaufen, die Unterstützung der Kinder ebenfalls. Das Lehrerkollegium absolviere regelmäßige Erste-Hilfe-Fortbildungen und sei für die Erkrankung sensibilisiert, so Thömmes. „Die Kinder hatten zu jeder Zeit die Möglichkeit zur Teilnahme am Unterricht.“ Das allerdings ist eine Selbstverständlichkeit – denn es besteht Schulpflicht und das Schulgesetz verpflichtet alle Schulen zur Inklusion. „Die Schule hat sich komplett kontraproduktiv verhalten, sowohl in psychologischer wie auch in pädagogischer Hinsicht“, meint Professor Andreas Pfützner, Diabetologe aus Mainz, bei dem die Töchter in Behandlung sind. „Was hier passiert ist, ist Diskriminierung pur.“
Vater: Klassenlehrer droht
Schwerwiegende Probleme habe es vor allem mit dem Klassenlehrer der älteren Tochter gegeben, sagt Mutter Pia Weber*. Dieser Lehrer habe ihnen sogar die hohen Fehlzeiten nach der Diagnose vorgehalten und Sanktionen angedroht. Nach Kritik an seinem Umgang mit dem Diabetes habe der Lehrer jede Kommunikation eingestellt. Den Vater warf er zudem aus einem Elternabend – wegen „übergriffigen Verhaltens“, so die Behauptung der Schule. Anwesende Eltern bestätigen jedoch, dass der Vater sein Anliegen, dass seine Tochter mit auf Klassenfahrt fahren kann, ruhig und sachlich vorgetragen habe, während der Lehrer laut und autoritär geworden sei. Was die Familie dann erlebte, bezeichnet sie als Mobbing und Intrigen. „Sogar eine Mediatorin wurde eingeschaltet“, so Weber. „Ihrer Handlungsempfehlung, endlich mit uns ins Gespräch zu gehen, verweigerte sich die Schule.“
Schließlich schalteten die Eltern das Antidiskriminierungsbüro RLP und die Schulaufsicht ein – woraufhin die Situation vollends eskalierte: Die Schulleitung schickte eine Meldung an das Jugendamt Mainz-Bingen wegen angeblicher Kindeswohlgefährdung – mit der Begründung, dass der Vater betont habe, es handele sich bei Diabetes um eine schwerwiegende Erkrankung. Man habe Sorge, dies könne zu einem „falschen Selbstbild“ der Kinder führen. Zudem stellte die Schule eine unzureichende Diabetesversorgung in den Raum. Abschließend heißt es in der Meldung gar: „Uns schwirren (…) Gedanken durch den Kopf wie ‚gewalttätiges Verhalten‘ oder ‚erweiterter Suizid‘.“
Diabetes-Professor lobt die Eltern
„Abwegig“ findet das auch Diabetologe Pfützner, der bestätigt, dass die Kinder eine hervorragende Diabetes-Einstellung hätten. Die Eltern würden sich bei der Betreuung ihrer Kinder vorbildlich verhalten. „Wir standen unter Schock, als uns die Akte des Jugendamtes vorlag“, sagt Pia Weber. „Niemals hätten wir gedacht, dass die Schule so weit geht und uns ohne jeden Anhaltspunkt das Schlimmste überhaupt andichten würde – nur um unsere Kritik abzuwehren und uns ruhig zu stellen.“
Bei einem Hausbesuch durch das Jugendamt wurde nicht nur eine Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen, die Mitarbeiterinnen rieten auch dringend, die Kinder umgehend von der Waldorfschule zu nehmen. Seit dem Sommer besuchen die beiden staatliche Schulen und haben dort nach Angaben der Familie keinerlei Probleme.
Meldung der Schule irritiert das Jugendamt
Eva Thömmes von der Waldorfschule Mainz verteidigt die Meldung: „Um unserer Sorgfaltspflicht Genüge zu tun, war diese Information an das Jugendamt geboten.“ Es sei schließlich immer wieder zu Fehlzeiten der Kinder gekommen. Diese stehen jedoch gar nicht im Fokus der Meldung – und Unregelmäßigkeiten hat es hier nach Auskunft der Eltern auch nicht gegeben.
Zum genauen Sachverhalt wollte sich das Jugendamt Mainz-Bingen aus Datenschutzgründen nicht äußern. Aus Vermerken des Amtes geht jedoch hervor, dass es Klärungsbedarf mit der Schule wegen der Umstände der offensichtlich unbegründeten Meldung gab.
Missbräuchliche Meldungen zu ahnden, ist aber nicht Aufgabe des Jugendamts. Deshalb hat die Familie eine Anwaltskanzlei eingeschaltet und Strafanzeige wegen Verleumdung und Vortäuschens einer Straftat gestellt. Die Staatsanwaltschaft Mainz hat die Ermittlungen aufgenommen.
Waldorfschule gibt Unterlassungserklärung ab
Zugleich hat die Familie eine Fachaufsichtsbeschwerde gegen die Waldorfschule eingereicht und zahlreiche Datenschutzverstöße an den Beauftragten für Datenschutz RLP gemeldet. Auf Hinwirken des Anwalts sahen sich Eva Thömmes und der Waldorfschulverein zuletzt gezwungen, eine Unterlassungserklärung wegen beleidigender und unwahrer Behauptungen über das angebliche Verhalten der Eltern abzugeben.
„Wir möchten, dass anderen Familien so etwas erspart bleibt“, sagt Lars Weber. „Dafür setzen wir uns ein.“
* Die Namen der Eltern wurden von der Redaktion geändert.