Krieg in der Ukraine
„Sarah Wagenknecht fordert Putin nie zu Friedensverhandlungen auf“
Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter ist nach wiederholten Reisen in die Ukraine überzeugt, das Land muss den Krieg gewinnen, um in Freiheit leben zu können.
Von Franz Feyder
Wiederholt hat der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter die kriegsgeschüttelte Ukraine besucht. Im Interview mit unserer Zeitung spricht der frühere Bundeswehrkommandeur nach seiner letzten Reise über Sarah Wagenknecht, russische Machtansprüche und deutsche Friedenspläne.
Herr Kiesewetter, wie lebt es sich als Kriegstreiber …
… wie kommen Sie auf Kriegstreiber?
Sarah Wagenknecht hat erst gerade wieder darauf hingewiesen, Kriegstreiber seien die, die die Ukraine unterstützen und mit Waffen beliefern wollen.
Kriegstreiber sind leider die, die Russland unterstützen. Ohne militärische Unterstützung für die Ukraine und die Verteidigung des Landes, wird Russland immer weiter die Ukraine zerstören und Land rauben. Der Krieg ist doch in den von den russischen Soldaten besetzten Gebieten nicht zu Ende: Menschen werden entführt, sie müssen ihre Wohnung abgeben, wenn sie keine russischen Pässe annehmen. Unsere Kultur der Zurückhaltung führt zur ständigen Eskalation durch Russland. Russland treibt den Krieg an und Frau Wagenknecht fordert Putin nie auf, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Sie argumentiert immer, Russland ist so stark, da haben wir gar keine Chance. Deshalb sollten wir die Unterstützung für die Ukraine aufgeben, damit die endlich einsieht, dass sie nicht gewinnen kann.
Eine Haltung, in der der Stärkere vorgibt, was Frieden ist.
Sie impliziert automatisch, dass Russland berechtigt diesen Krieg führt und ihn gewinnen muss. Das ist aus meiner Sicht eine Haltung, die den Krieg antreibt. Ich zähle zu denen, die davor warnen und sagen, die Konsequenz des Ganzen ist die Ausweitung des Krieges. Russland will quasi die alte Sowjetunion wiederherstellen, Ruskij Mir nennt man das, es hat also imperiale Ansprüche. Damit ist die Ukraine der Anfang: jetzt sie, dann Moldau, dann die baltischen Staaten. Putin könnte den Krieg sofort beenden, indem er sich zurückzieht.
Macht Wagenknecht aus dem Täter ein Opfer?
Ganz sicher. Sie stilisiert diejenigen, die das Opfer Ukraine unterstützen, zu Tätern und Kriegstreibern, statt die wahren Ursachen zu benennen. Das ist schon jenseits des politisch Erträglichen.
Sie kommen gerade aus der Ukraine zurück. Mit welchen Eindrücken?
Mit sehr unterschiedlichen, vielfältigen Eindrücken. Die Diskussion dort ist ganz anders als in Deutschland. Wir spielen dort auch nicht die Rolle. Die mittel- und osteuropäischen und skandinavischen Staaten unterstützen im Verhältnis zu uns deutlich mehr. Die wirtschaftsstarke Bundesrepublik wendet 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die militärische Unterstützung der Ukraine auf. Dänemark 1,5 Prozent – also 15-mal mehr. In der Ukraine ist man sich dessen bewusst. Man ist von uns enttäuscht und beteiligt uns an vielen Diskussionen nicht.
Im Kanzleramt schrillen die Alarmglocken?
Im Gegensatz beispielsweise zur NATO sind wir auf Wunsch des Kanzleramtes mit keinem Unterstützungs- und Beraterteam vor Ort. So haben wir keine Informationen aus erster Hand. Unsere Debatte in Deutschland wird mit veralteten Informationen über die Ukraine geführt und mit Hochaktuellen über Russland, weil wir von dort – auch über die Nachrichtendienste – deutlich mehr erfahren. So wird bei uns die Diskussion geführt: na ja, die Ukraine hat keine Chance, Russland wird gewinnen. Dabei wissen wir gar nicht, was in der Ukraine abgeht.
Was geht denn dort ab?
Zum einen ungeheure technische Innovationen in kürzester Zeit. Die Ukraine muss und will ihre Soldatinnen und Soldaten schützen. Deswegen setzen sie stark auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Zweitens weiß die Bevölkerung sehr genau, was ihr blüht, wenn sie Teil der Russischen Föderation wird: Gewalt, Entführung von Kindern, Vergewaltigung, die Militarisierung von Kindern in paramilitärischer Ausbildung. Fast jeder hat Verwandte in den besetzten Gebieten.
Wie kann da ein Frieden für die Ukraine aussehen?
Die Menschen haben einen anderen Überlebenswillen, als uns das bewusst ist. Sie wollen nicht Frieden um jeden Preis, sondern Frieden in Freiheit und Selbstbestimmung. Keinen Waffenstillstand, der wie 2015 nach den beiden Minsk-Abkommen, ständig von Russland getestet wird. Auf der russischen Seite hinter der Front wird verhaftet, wird gefoltert, wird missbraucht.
Vor dem zehnten Kriegswinter in der Ukraine: wie kommen die Menschen durch die Kälte?
Wir schauen auf die Frontverläufe, worauf wir nicht schauen, ist, wie massiv Russland die zivile Infrastruktur zerstört. Knapp 80 Prozent der Elektrizitätswerke sind zerstört. Das hat zur Folge, dass in vielen Städten keine Wasserpumpen oder Heizungen mehr funktionieren. Die Gefahr von Infektionen ist sehr hoch. Immer wieder werden Krankenhäuser bombardiert, ein Kinderkrankenhaus in Kyjiw, am Wochenende ein Krankenhaus in Sumy. Putin verfolgt das Ziel, Massenflucht auszulösen, indem er massiv zivile Einrichtungen, Kraftwerke, die Infrastruktur zerstört.
Der Kanzler will das mit einem Friedensplan beenden …
… was immer das auch heißt. Er sagt jetzt, wir müssen dafür sorgen, dass Russland die Ukraine nicht ganz auffrisst. Das bedeutet doch, dass er meint, die Ukraine müsse Teile ihres Staatsgebietes abtreten. In welchem Umfang wissen wir nicht. Und dann? Ich vermisse Sicherheitsgarantien in Scholz’ Plan. 1994 hat die Ukraine mit dem Budapester Memorandum als weltweit drittgrößte Atommacht ihr Nukleararsenal an Russland übergeben. Das Memorandum hat Russland gebrochen. Der Kanzler legt offenbar keinen Wert darauf, dass die Ukraine ihre Souveränität wiederherstellt. Die Bundesregierung ist in viel größerer Sorge, dass Putin bei einer Niederlage keine Zukunft mehr hat und das heutige Russland zerfällt.
Das Budapester Memorandum, in dem Russland, die USA und Großbritannien die Sicherheit der Ukraine im Gegenzug für deren nukleare Entwaffnung garantierten, ist gebrochen. Mit welcher Außenwirkung?
Mit erheblichen! Der an der Schwelle zur atomaren Bewaffnung stehende Iran wird die Ukraine vor Augen haben, wenn es um Gespräche über sein Atomwaffenarsenal geht. Wir laufen Gefahr, dass Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts als Leitlinie in der internationalen Politik zu etablieren.
Der ukrainische Präsident Selenskyj spricht währenddessen von einem Siegesplan.
Er versucht – auch in Berlin – zu überzeugen, dass es günstiger und militärisch sinnvoller ist, mit weitreichenden Waffen auf russische Bereitstellungsräume wirken, als extrem teure Flugabwehrraketen gegen russische Flugzeuge einzusetzen. Dass es sinnvoller ist, diese Jets in ihren Hangars zu zerstören, als sie mit hohem Aufwand und Risiko für die Zivilbevölkerung über ukrainischen Wohngebieten abzuschießen. Die Ukraine muss siegen, will sie in Freiheit leben.
Erst vergangene Woche hat die Ukraine ein Munitionslager zerstört, in dem aus Nordkorea gelieferte Munition gestapelt war. Es ist nicht erkennbar, dass die Bundesregierung diese Unterstützung thematisiert.
Ein Paradebeispiel dafür, wie unser Diskurs irrlichtert: Wir schicken weder deutsche Berater noch bestimmte deutsche Waffensysteme in die Ukraine, weil wir nicht Kriegspartei werden wollen. Und wir sprechen nicht an, dass Nordkorea, dass Russland außer Munition und Waffen auch Soldaten stellt. Oder der Iran, der Drohnen liefert und Berater entsendet. Wir sagen nicht, Iran und Nordkorea sind aktive Kriegsteilnehmer. Wir sprechen auch nicht an, dass Russland eingebettet ist in eine Allianz von China, Iran und Nordkorea, die wechselseitig von der Kooperation mit Russland profitieren. Wir tun alles, nicht Kriegspartei zu werden. Dabei sind wir längst ein Kriegsziel Russlands. Unsere Zurückhaltung bestärkt Russland, straf- und sanktionslos immer weiter zu eskalieren.
Der russische Botschafter in Deutschland hat in einem Interview im Deutschlandfunk den Friedensplan des Kanzlers gelobt.
Aber Russland lehnt ab, in Verhandlungen zu gehen. Sie sehen: die Unterstützung für die Ukraine schwindet, da brauchen sie nicht verhandeln. Sie haben 30 Prozent des Ackerlandes vermint, 20 Prozent des Territoriums besetzt. Putin kann einfach weitermachen …
… und treibt die Ukraine immer tiefer in einen Abnutzungskrieg.
Die Ukraine ist ja keine kriegslüsterne Nation. Der ukrainische Wille, zu überleben, ist auch deshalb so groß, weil Russland in den besetzten Linien grausam wütet: Kindesentführungen, Vergewaltigungen. Gefangenen werden mit Teppichmessern die Genitalien abgeschnitten, die Videos davon mit den Handys der Soldaten ihren Frauen nach Hause geschickt. Putin hat Straf- und Arbeitslager von Sibirien in die besetzten Gebiete verlegt, um Rüstungsgüter zu produzieren und Erdschätze zu rauben. Russland ist eingebunden in eine Allianz mit China, Iran und Nordkorea. Es bereitet sich darauf vor, sich auch Moldau und die baltischen Staaten einzuverleiben. Das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen. Wenn wir von Frieden sprechen, müssen Forderungen an Russland kommen, seine Nuklearwaffen aus Kaliningrad abzuziehen und das Existenzrecht aller seiner Nachbarstaaten unwiderruflich anzuerkennen.