Industrie- und Handelskammertag
Schleichender Abschied vom heimischen Standort
Ein Teil der Unternehmen will laut einer Umfrage des baden-württembergischen Industrie- und Handelskammertages künftig mehr im Ausland investieren – das bedroht den heimischen Standort.
Von Matthias Schiermeyer
Wie gefährlich ist die Deindustrialisierung für den Standort Deutschland? Die Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und Friedrich Merz zeigen sich da offenbar unterschiedlich stark alarmiert. Es verfestigt sich allerdings der Eindruck, dass die Unternehmen im Südwesten zunehmend das Vertrauen in ihre Heimatbasis verlieren.
Nach einer neuen Konjunkturumfrage des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages planen fast 30 Prozent der im Ausland investierenden Unternehmen, Investitionen im Inland in diesem Jahr zugunsten von Projekten im Ausland zurückzustellen – während 22 Prozent höhere Investitionen hierzulande vorhaben. Landesweit haben zu Jahresbeginn 3679 Unternehmen aller Größen und Branchen an der Erhebung teilgenommen.
Investitionsstandorte in anderen EU-Ländern favorisiert
„Der Glaube an die Widerstandsfähigkeit des Standorts gegen alle Bürokratie-, Kosten- und sonstigen Belastungen dürfte sich endgültig verflüchtigt haben“, sagt Claus Paal, Vizepräsident des Handelskammertages und Präsident der IHK Region Stuttgart. Er fordert von der neuen Regierung eine zügige und umfassende Wirtschaftsagenda, die Innovationen, Investitionen, Standortkosten und Bürokratieabbau umfasse.
Zunehmend zögen Betriebe Investitionsstandorte auch in anderen EU-Ländern vor. „Dort gelten zwar viele ähnliche bürokratische Regelungen und Berichtspflichten, sie sind aber bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei uns.“ Deutschland und der Südwesten benötigten dringend neue Strategien, um im internationalen Wettbewerb nicht den Anschluss zu verlieren. Eine künftige Bundesregierung müsse „dafür sorgen, dass die Betriebe wieder Vertrauen in den Standort haben und verlässlich planen können“, so Paal.
Die Sorge, gegenüber ausländischen Standorten ins Hintertreffen zu geraten, hat auch nach Beobachtungen des Arbeitgeberdachverbandes Gesamtmetall schon zu Kürzungen der Investitionen im Inland geführt. Stattdessen investiere jedes dritte Unternehmen an ausländischen Standorten, heißt es. Daraus folgt: In Deutschland wird Personal abgebaut, während jenseits der Grenzen neue Arbeitsplätze aufgebaut werden.
IG Metall: Deindustrialisierung darf es nicht geben
Die Gewerkschaften sind nicht weniger besorgt: „Wir haben richtig was zu verlieren“, betonte jüngst IG-Metall-Chefin Christiane Benner. „Eine Deindustrialisierung, egal ob schleichend in Kauf genommen, gezielt herbeigeführt oder bräsig zugelassen, darf es nicht geben.“ Gefordert werden massive staatliche Investitionen und ein großes Förderprogramm, das Investitionen der Privatwirtschaft auslöst.
Mit Blick auf die aktuelle Geschäftslage gibt es kaum Lichtblicke in der IHK-Umfrage: 29 Prozent aller Unternehmen erwarten schlechtere Geschäfte in den kommenden zwölf Monaten, das sind zwei Prozentpunkte weniger als im Herbst; auf bessere Geschäfte hoffen 16 Prozent. Deutliche Spuren hinterlassen die Herausforderungen vor allem in der Industrie: 31 Prozent der Befragten gehen von einer Verschlechterung aus.