Steinlawine droht
Schweizer Dorf muss erneut evakuiert werden
Das Bergdorf Brienz droht erneut verschüttet zu werden. Eine Steinlawine könnte die Häuser mit mehr als 80 Stundenkilometern erreichen.
Von Steffen Rometsch
Das Schweizer Bergdorf Brienz in Graubünden schaltet in den Alarmmodus: Die rund 85 Bewohner müssen wieder mit der Zerstörung ihrer Wohnungen und Häuser rechnen, mit dem Verlust ihrer Heimat. Oberhalb des auf einem Hochplateau im Albulatal zwischen Lenzerheide und Davos gelegenen Dorfes bewegen sich riesige Gesteinsmassen auf der sogenannten Schutthalde. Bis zu 1,2 Millionen Kubikmeter Felsschutt könnten talwärts rutschen. Erreicht die Masse dabei eine hohe Geschwindigkeit, kann sie über den bestehenden Schuttkegel hinausgleiten und das gesamte Dorf Brienz erreichen.
Die Stuhlreihen im Schulhaus Cumpogna in Tiefencastel sind am Samstagabend fast bis auf den letzten Platz gefüllt. In schonungsloser Offenheit informieren die Verantwortlichen der Gemeinde und des kantonalen Bevölkerungsschutzes die Bewohner von Brienz darüber, dass sie möglicherweise schon in den kommenden Tagen ihre Häuser verlassen müssen. „Bereiten Sie sich bitte umgehend darauf vor“, appelliert Pascal Porchet, Leiter des kantonalen Amts für Militär und Zivilschutz, an die Betroffenen und macht den Ernst der Lage unmissverständlich klar: „Bereiten Sie ihr Gepäck vor.“
Mitgenommen werden solle alles, was mit Versicherungen oder Geld nicht ersetzt werden könne, „persönliche Dinge an denen Sie hängen und die für Sie Erinnerungen beinhalten“, so Porchet. Zudem alles, was es zum Leben brauche, für Familie, Schule, Arbeit, Freizeit, Ausweise und Dokumente. Es drohe eine Evakuierung von mehreren Monaten. Ob und wann ein solcher Schritt erfolgen soll, wurde noch nicht festgelegt.
Das Dorf Brienz ist seit Menschengedenken in Bewegung. Die Plateauterrasse rutscht vermutlich seit der letzten Eiszeit talwärts. Doch im vergangenen halben Jahr hat die Geschwindigkeit rasant zugenommen: Das Dorf selbst bewegt sich jetzt knapp zweieinhalb Meter pro Jahr, der Berg sogar 3,4 Meter. Das sind Höchstwerte seit Messbeginn im Jahr 2013. „Wie lange will man uns diese Situation noch zumuten?“, fragt ein Bewohner von Brienz die Behörden in Tiefencastel. Er lebe mit gepackten Koffern, die Bevölkerung lebe seit Jahren im „Stand-by-Alarm-Modus“. Man müsse sich vorstellen, was das mit den Menschen mache. „Mein Haus rutscht 20 Zentimeter im Monat talwärts in Richtung Tiefencastel“, sagt ein anderer. Türen würden nicht mehr schließen, die Kanalisation funktioniere nicht richtig.
Gemeindepräsident Daniel Albertin versucht zu beruhigen: „Sie können auf unsere Solidarität vertrauen.“ Er verwies auf den Bau des 2,3 Kilometer langen Entwässerungsstollens unterhalb des Dorfes. Für 40 Millionen Franken soll er die Landmasse entwässern und so den Druck auf die Rutschungen reduzieren. Die Behörden hätten deshalb den Glauben nicht verloren, die Heimat erhalten zu können.
Die Bevölkerung lebt seit Jahren im „Stand-by-Alarm-Modus“
Der Schuttstrom kann mit 80 Stundenkilometern auf das Dorf rasen
Rechtzeitige Warnungen kaum mehr möglich
Die Schutthalde am Hang des Piz Linard über dem Dorf reagiert empfindlich auf Niederschläge, was die Sorgen vor dem nahenden Winter erklärt. „Aus der Schutthalde kann sich ein sehr schneller Schuttstrom entwickeln, wie eine Art Steinlawine“, erklärt der Geologe Stefan Schneider, der den Frühwarndienst leitet. „Und er kann Geschwindigkeiten von 80 Kilometern pro Stunde oder mehr erreichen.“ Auslöser könnten intensive oder lang andauernde Niederschläge sein. Solch ein Schuttstrom seit zwar derzeit nicht wahrscheinlich, aber wenn er plötzlich eintrete, seien rechtzeitige Warnungen kaum mehr möglich.
Das sei der Unterschied zum Frühjahr 2023. Damals konnten die Experten bereits mehrere Wochen im voraus erkennen, das es zu einem Abbrechen der sogenannten Insel kommen würde. Im Mai 2023 wurde Brienz komplett evakuiert. So kam niemand zu Schaden, als in der Nacht zum 16. Juni bis zu 1,5 Millionen Kubikmeter Gestein ins Tal rutschten – und nur wenige Meter vor dem alten Schulhaus zum Stillstand kamen. Wenig später durften die Bewohner wieder zurück in ihre Häuser.