EU-Kommission
Sechs Kommissare auf der Wartebank
Wegen tiefer politischer Gräben im Europaparlament haben die Abgeordneten ihre Entscheidung über wichtige Mitglieder der nächsten EU-Kommission vertagt.
Von Knut Krohn
Das Spektakel für die interessierte Öffentlichkeit ist vorbei, nun beginnt hinter verschlossenen Türen der EU-typische Machtpoker. Nach einer hitzigen Debatte haben die Abgeordneten des Europaparlaments am späten Dienstagabend in Brüssel ihre Entscheidung über die wichtigen Mitglieder der nächsten EU-Kommission vertagt. Die sechs designierten Vizepräsidentinnen und -präsidenten müssen nun also auf ihre Bestätigung warten.
Die Eskalation kam allerdings mit Ansage. Tagelang liefen die Anhörungen der designierten Kommissare in den zuständigen Ausschüssen mit einschläfernder Zähigkeit. Die Kandidaten beantworteten über Stunden mehr oder weniger eloquent die Fragen der Europaparlamentarier, wobei sie meist exakt das wiedergaben, was ihnen die Kommissionschefin Ursula von der Leyen in ihren sogenannten „Mission Letter“ geschrieben hatte. Das ist eine Art Arbeitsauftrag für die kommenden fünf Jahre der Legislatur.
Debatte entzündet sich an Fitto
Wurden die meisten Kandidaten schlicht durchgewunken, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit von Anfang an auf einen Mann: Raffaele Fitto. Die EU-Kommissionspräsidentin will mit dem umstrittenen Italiener erstmals einen Rechtsaußen-Politiker zu einem der geschäftsführenden Vizepräsidenten machen. Die Nominierung des Ex-Ministers aus der Partei der ultrarechten italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni sei „ein Beispiel dafür, wie die Rechte in ganz Europa die extreme Rechte reinwäscht“, empörte sich die spanische Grünen-Abgeordnete Ana Miranda Paz bei der Anhörung.
Allerdings geht es bei dem Streit um wesentlich mehr als um die Person von Raffaele Fitto. Die Nominierung des Italieners ist das erste, sehr prominente Beispiel dafür, wie in Zukunft im Parlament und auch der Kommission die Machtverhältnisse gelagert sein könnten. Seit Wochen betonen Sozialdemokraten, Liberale und Grüne immer wieder, dass es eine Mehrheit der Demokraten im Parlament gibt – zu der gehöre die Meloni-Partei Fratelli d’Italia aber nicht.
Manfred Weber geht unbeirrt seinen Weg
Das interessiert Manfred Weber allerdings herzlich wenig. Der Chef der konservativen EVP-Fraktion will sich nicht auf Sozialdemokraten, Liberale und Grüne als einzige mögliche Kooperationspartner festlegen. Um sein volles politisches Gewicht auszuspielen, ist der CSU-Mann bereit, mit den Stimmen der rechtsnationalen EKR (Europäische Konservative und Reformer) seine politischen Projekte durchzudrücken. Im linken Lager wird vermutet, dass mit dem Vize-Posten für Raffaele Fitto die Loyalität der Fratelli d’Italia erkauft werden soll. Manfred Weber und Ursula von der Leyen weisen solche Spekulationen natürlich weit von sich. Italien sei Gründungsmitglied und das drittgrößte Land in der Europäischen Union, betonen sie. Also stehe Rom auch ein herausgehobener Posten in der Kommission zu.
Dass Weber kein Problem darin sieht, mit Parteien vom rechten Rand Mehrheiten zu bilden, hat sich bereits einige Male gezeigt. So votierten die Abgeordneten im September gemeinsam für eine Resolution zu Venezuela, in der sie den Oppositionsführer Edmundo González Urrutia als gewählten Präsidenten anerkannten. Die Ja-Stimmen kamen neben der konservativen EVP von der rechtspopulistischen EKR, den beiden extrem-rechten Fraktionen der Patrioten für Europa sowie den Souveränen Nationen, in der die AfD-Abgeordneten den Ton angeben. Zur Empörung von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen stimmte die EVP zuletzt sogar für einen Änderungsantrag der AfD. Darin ging es um die Finanzierung von Sperranlagen an den Außengrenzen aus dem EU-Haushalt. Die AfD hatte einen Antrag der EVP aus dem letzten Jahr unter eigenem Namen eingereicht. Der scharfe Vorwurf an Manfred Weber lautet, dass er nicht nur die Brandmauer gegenüber den extrem-rechten Parteien einreiße, sondern auch die politischen Gräben zwischen den Demokraten im Parlament unüberwindbar vertiefe.
Grüne fürchten um den Green Deal
Die Grünen befürchten sogar einen Frontalangriff auf den Green Deal, das zentrale Klimaprogramm der EU für die nächsten Jahrzehnte. Die Konservativen würden mit der Mehrheit der extremen Rechten gezielt versuchen, die EU-Umweltgesetze auszuhöhlen oder zu beenden. So warnt die Europaabgeordnete Anna Cavazzini, dass am Donnerstag im Parlament „mit den Stimmen der Rechtsextremen“ das EU-Gesetz gegen Abholzung gekippt werden soll. Denn zusätzlich zu einer bereits geplanten Verschiebung bis Ende 2025 reichte die EVP-Fraktion im Europaparlament weitere Änderungsanträge ein. „Präsidentin Ursula von der Leyen hat ihnen mit der Verschiebung den kleinen Finger gereicht, nun wollen sie die ganze Hand“, warnt die Grünen-Politikerin am Mittwoch.
Kaja Kallas als Opfer des Streits
Ein prominentes Opfer des Streits und der Machtspielchen um den Italiener Raffaele Fitto ist die designierte EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas aus Estland. Sie sollte in diesen Zeiten der Krise vor allem der Ukraine-Politik der EU endlich eine wirkliche Richtung geben. Doch nun wurde auch sie, zusammen mit ihren Kollegen und Kolleginnen, auf die Wartebank gesetzt. Wie lange es dauert, bis die Parlamentarier eine Lösung gefunden haben, ist unklar. Die langwierigen Anhörungen haben gezeigt, dass sich der komplizierte Entscheidungsapparat der EU auch durch existenzielle Krisen nicht wirklich beeindrucken lässt.