Seit der Grundschule im Lippenlesen geübt

Lena Eschen, die mit ihrem Mann und den zwei Kindern im Murrhardter Teilort Hinterwestermurr lebt, thematisiert auf Instagram ihren Alltag mit Hörbehinderung. Die Kommunikation ist eine ständige Herausforderung und kostet viel Energie.

In diesen Tagen bekommt Lena Eschen ein Cochlea-Implantat eingesetzt, weil ihr Hörvermögen weiter abgenommen hat. Dies bedeutet, wieder ganz von vorne mit dem Hörtraining und Verstehen anzufangen. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

In diesen Tagen bekommt Lena Eschen ein Cochlea-Implantat eingesetzt, weil ihr Hörvermögen weiter abgenommen hat. Dies bedeutet, wieder ganz von vorne mit dem Hörtraining und Verstehen anzufangen. Foto: Stefan Bossow

Von Uta Rohrmann

Murrhardt. Eltern warten vor der Grundschule, um ihr Kind abzuholen. Für die meisten von ihnen ist dies eine ganz normale Alltagssituation. Für Lena Eschen bedeutet es eine enorme Anstrengung. Oberhalb der Danielschule liegt eine Straße, unterhalb fahren Züge, ein Fluss rauscht, Kinder lärmen, mehrere Mütter unterhalten sich. Als Frau mit Hörbehinderung hat sie Angst, dass sie inmitten all dieser akustischen Reize angesprochen wird und es vielleicht gar nicht mitbekommt. Oder dass sie jemand anspricht und sie die Hälfte nicht versteht und andere sie aufgrund ihrer Reaktionen falsch einschätzen.

Die 32-Jährige, die im Murrhardter Teilort Hinterwestermurr lebt, hat sich mittlerweile dafür entschieden, mit Situationen wie diesen offen umzugehen. Auf Instagram lässt sie Menschen an ihrem Leben als zweifache Mutter mit Hörbehinderung teilhaben. Mit ihren persönlichen Einblicken möchte sie über die Situation von Hörgeschädigten aufklären und für mehr Verständnis im Zusammenleben werben. Von Menschen, die keine Einschränkungen beim Hören haben, wünscht sich die Murrhardterin die gleiche Offenheit. „Ich trage sichtbar was im Ohr. Man darf mich gerne danach fragen“, sagt Lena Eschen.

Weinen oder Flötenspiel können mit Hörgerät regelrecht schmerzen

Ihr Hörgerät ist silbern, das Ohrpassstück blau. Im Einzelfall ist es schon vorgekommen, dass Mitmenschen dachten, es handle sich einfach um modernen Ohrschmuck. „Viele denken auch: Die hat ein Hörgerät, also kann sie doch alles hören. Aber diese Schlussfolgerung ist falsch. Ein Hörgerät kann niemals das gesunde Hören ersetzen. Es verstärkt nicht nur Worte, sondern auch Schall und sämtliche Umgebungsgeräusche“, erklärt die gelernte zahnmedizinische Fachangestellte. Zudem seien bestimmte vom Hörgerät übersetzte Frequenzen wie zum Beispiel beim Weinen in hoher Tonlage oder bei einem Flötenspiel für ihre Ohren geradezu schmerzhaft.

Lena Eschen genießt es, dass sie mit ihrem Mann und den Kindern Sebastian (9) und Rebecca (6) in Hinterwestermurr mitten in der Natur zu Hause ist. Mit ihrer Tochter versorgt sie mehrmals wöchentlich zwei Pflegepferde. Im Selbststudium hat sie sich zur Expertin für Naturheilmittel weitergebildet und bietet saisonale Online-Kurse über eine natürliche Reiseapotheke beziehungsweise Winterapotheke an – zusammen mit einer gehörlosen Freundin, die bei den Seminaren in die Gebärdensprache übersetzt. Sitzt man Lena Eschen in ihrem ruhigen Wohnzimmer mit Blick ins Grüne gegenüber, kann man sich gut und flüssig mit ihr unterhalten. Nur selten muss die 32-Jährige, die seit der Grundschulzeit im Lippenlesen geübt ist, nachfragen, weil sie etwas nicht verstanden hat.

Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lena Eschen immer hoch konzentriert sein muss, um Lückentexte zu ergänzen. Sie errät Worte und Silben aus dem Zusammenhang. Je lauter die Geräuschkulisse um sie herum – beispielsweise in einer großen Tischrunde mit Besuch – ist, umso schwieriger werden Gespräche. Wenn dann ihre Nachfrage ignoriert wird, ist das verletzend. Hilfreich ist es, wenn das Gegenüber nur kurz das Wort oder den Satzteil wiederholt, nach dem sie gefragt hat – und nicht mit neu formulierten Sätzen weitere kommunikative Hindernisse aufbaut.

„Ich brauche täglich eine riesige Menge an Energie, die ich in konzentriertes Hören und akustisch korrektes Verstehen investieren muss“, so Eschen. „Ein Arzt hat mir mal gesagt, das ist so, wie wenn ich ständig ein Matheabi schreiben müsste.“

Ihre Kinder achten auf Augenkontakt,


im Auto gibt es einen Extraspiegel

Sebastian und Rebecca haben gelernt, wie sie mit ihrer Mama kommunizieren können. Sie tippen sie an oder sagen: „Mama, guck mich an“ und warten, bis sie reagiert. In emotionalen Situationen, wenn Schmerz oder Freude sich Bahn brechen wollen, ist das aber oft schwierig. Im Auto hilft ein Extraspiegel an der Frontscheibe, die Kinder mit ihren Bedürfnissen besser im Blick zu haben, doch auch diese Möglichkeit ist natürlich während des Fahrens begrenzt.

Während ihrer eigenen Kindheit bei Hannover fiel zunächst nichts auf, sie entwickelte sich sprachlich sogar überdurchschnittlich. Erst im Alter von fünf Jahren wurde eine Schwerhörigkeit festgestellt. Zu einer insgesamt guten Grundschulzeit verhalfen ihr eine Integrationskraft und eine sogenannten Mikroportanlage. Mit dieser gelangten die in ein kleines Mikrofon gesprochenen Worte der Lehrerin direkt ins Hörgerät. Ziemlich irritiert war ihre Lehrerin allerdings, als eines Tages die Polizei in die Schule kam, weil über das Gerät auch Funksprüche von außerhalb zu hören waren und sich umgekehrt der Unterricht andernorts mitverfolgen ließ. Die Akustikerin stellte daraufhin das Gerät neu ein.

Unterricht in einer lauten Klasse mit 33 Schülern, Situationen, die sie als Mobbing erlebt hat, und Ignoranz gegenüber ihrer Lage durch überforderte Lehrer – die Zeit in der Realschule war für Lena Eschen keine gute. Aufatmen konnte sie, als sie im Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte Hildesheim in einer Gruppe mit nur sechs Schülern unter optimalen Bedingungen ihre schulische Laufbahn fortsetzen konnte – auch wenn das bedeutete, dass sie jeden Tag mit dem Kleinbus abgeholt wurde und zwei bis drei Stunden unterwegs war. Auch der Weg in die Ausbildung war für Lena Eschen, die 2007 nach Baden-Württemberg zog, steinig. Der Traum, Hebamme zu werden, zerschlug sich – aufgrund von Diskriminierung wegen ihrer Behinderung. So sieht sie es selbst, aber auch andere Auszubildende hätten dies so bewertet, die ihre Situation miterlebt haben, erzählt sie. Mit ihrer Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten wiederum habe sie sehr, gute Erfahrungen gemacht, berichtet Lena Eschen. Dankbar ist sie auch für einen verständnisvollen Backnanger Zahnarzt, bei dem sie bis zum Mutterschutz arbeitete.

Derzeit erlebt Lena Eschen eine weitere enorme Herausforderung. Nachdem sie schon länger geahnt hat, dass sich ihr Hörvermögen weiter verschlechtert hat, hat sie im Januar eine niederschmetternde Diagnose bekommen: „Sie haben ohne Hörgeräte ein Sprachverstehen von null Prozent mit geringem Resthörvermögen im Tieftonbereich.“ Schweren Herzens hat sie sich dafür entschieden, sich ein Cochlea-Implantat einsetzen zu lassen. „Das ist ein enormer Eingriff zwischen Gesichts- und Geschmacksnerv, bei dem eine Elektrode in die Hörschnecke eingeführt wird, die elektrische Impulse an das Gehirn sendet. Vom Gehirn werden diese dann als akustische Ereignisse interpretiert“, erklärt sie.

Es werde ein komplett anderes Hören sein, das noch einmal ganz neu gelernt werden müsse. Nach sehr viel Training unter logopädischer Anleitung könne sie im Idealfall nach zwei Jahren 70 Prozent Sprachverstehen erreichen. Der Weg zu diesem neuen, elektronisch vermittelten Hören mit hoffentlich neuer Lebensqualität ist hart: „Erst mal soll sich alles völlig abstrus anhören“, sagt Lena Eschen.

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Erstellt:
28. Juni 2024, 06:00 Uhr

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