Systemsprenger – keine Rollatorterroristen

Die mutmaßliche Terrorgruppe um Prinz Reuß wollte den Rechtsstaat kippen. Bilanz nach 50 Prozesstagen.

Von Eidos Import

Schon 50 Mal hat Richter Joachim Holzhausen nun in Stuttgart einen Verhandlungstag im Proz ess um neun Männer eröffnet, die der mutmaßlichen Rechtsterrorgruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß angehört haben sollen. Die Männer sollen geplant haben, das politische System Deutschlands zu stürzen und es zu ersetzen. Einer dieser neun Angeklagten soll zudem im März 2023 auf einen Polizisten des Spezialeinsatzkommandos geschossen und ihn schwer verletzt haben.

In diesem Punkt unterscheidet sich das Verfahren grundlegend von denen, die parallel in gleicher Sache in Frankfurt und München gegen weitere 17 Angeklagte geführt werden: In Stuttgart sitzt ein Mann, der sich auch wegen versuchten Mordes an Polizisten verantworten muss.

Zwei Dinge machen nach 50 Verhandlungstagen besonders nachdenklich. Erstens: Die meisten der zumindest in Stuttgart Angeklagten wären wahrscheinlich heute keine Untersuchungshäftlinge, hätte es die Coronapandamie nicht gegeben: Etliche von ihnen verkehrten in der Szene der Coronaskeptiker und -leugner, fanden so den Anschluss zu der Gruppe um Reuß. Covid und der staatliche Umgang damit haben die Gesellschaft entzweit. Diese Zeit in Untersuchungsausschüssen aufzuarbeiten wäre vornehmste Aufgabe aller Parlamente.

Zweitens: Die höchst gefährlichen Narrative der Gruppe um Prinz Reuß verfangen bei zahlreichen Menschen – immer noch. Das zeigt sich nicht zuletzt bei Besuchern des Prozesses. Sie werden vor allem durch Äußerungen in sozialen Medien genährt, von denen niemand weiß, ob überhaupt Menschen dahinter stehen.

Die Angeklagten an Isar, Main und Neckar gelten manchen Beobachtern als „Rollator-Terroristen“, womit sich lustig gemacht wird über die mehrheitlich aus älteren und alten Menschen bestehende Truppe, die geplant haben soll, den Reichstag zu stürmen. Das mag auf den ersten Blick stimmig wirken. Doch der Spott verharmlost die Absichten dieser Gruppierung und lässt grundlegend außer Acht, dass Paragraf 129a des Strafgesetzbuches nicht verlangt, dass die Terroristen ihre Ziele auch tatsächlich umsetzen und dabei schwere Gewalttaten begehen. Die Strafbarkeit als Terrorist beginnt lange vor dem Handeln – an dem Punkt, wenn sich Menschen zusammenschließen, eine Gruppe bilden oder unterstützen, Terror gedanklich planen.

Wer im Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim die mitgeschnittenen Telefonate hört, Fotos und Videos der Observationen betrachtet, sich mit den Plänen für die Organisation militärischer Einheiten nach einer möglichen Machtübernahme befasst, der hat wenig Zweifel, dass hier sehr konkret ein Umsturz geplant wurde. Der Rechtsstaat und die Demokratie sollten bekämpft werden. Mögen die Motive und Vorstellungen jedes einzelnen Angeklagten für sich gesehen krude gewesen sein: Die Krone der Absurdität erreichen sie in den Äußerungen aller Angeklagten, eine durch Außerirdische verstärkte Allianz könnte der Gruppe zu Hilfe eilen.

Selten hat das Wort des Chefanklägers im Auschwitz-Prozess der frühen 1960er Jahre seither so gut gepasst wie jetzt. Der gebürtige Stuttgarter Fritz Bauer hatte gesagt, dass der Rechtsprechung zum Mord von sechs Millionen Juden Grenzen gesetzt seien, „nicht aber einer Feststellung und möglichst allseitigen Erkenntnis der Wahrheit“. Genau das tun die Richterinnen und Richter des 3. Strafsenates aktuell: Exzellent auf das Verfahren vorbereitet legen sie offen, wie radikale Parolen und Verschwörungstheorien Menschen verführen können. Davon kann sich jeder im Zuschauerraum des Gerichts überzeugen – und sich auch so für Demokratie und Menschenwürde stark machen.

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Erstellt:
4. Februar 2025, 22:10 Uhr
Aktualisiert:
5. Februar 2025, 21:55 Uhr

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