Tauben und das Wetter erzählen

Die aktuelle Ausstellung im Atelierfenster auf dem Murrhardter Wolkenhof zeigt Videoarbeiten von Künstlern aus Hongkong. Als metaphorische Plattform von „Homeland in Transit“ dient die Natur, die aber auch soziale und emotionale Themen transportiert.

In „Weather Girl, Halo Daisy“ kontrastiert die unbeschwert wirkende Bildsprache mit unterschwellig spürbaren ernsten Themen. Fotos: privat

In „Weather Girl, Halo Daisy“ kontrastiert die unbeschwert wirkende Bildsprache mit unterschwellig spürbaren ernsten Themen. Fotos: privat

Von Petra Neumann

MURRHARDT. Um einen überaus emotionalen Begriff geht es in der aktuellen Ausstellung des „Kunstfensters am Wolkenhof“, nämlich um den der Heimat. Zu dieser Thematik lässt die Kuratorin Birgit Krueger zusammen mit ihrer chinesischen Kollegin, der Wahlschweizerin Angelika Li, Künstler aus Hongkong im übertragenen Sinne zu Wort kommen. Drei Kulturschaffende haben die Gelegenheit genutzt, die Situation in ihrem eigenen Heimatland mithilfe ihrer Arbeiten zu reflektieren. Der Titel der Ausstellung lautet: „Homeland in Transit – through the clouds (Heimatland im Wandel – durch Wolken hindurch)“.

Birgit Krueger unterstreicht: „Als Fenster inmitten der Welt möchten wir regelmäßig Ausblicke in ferne Welten ermöglichen. Hongkong ist in der Pandemie ein unerreichbarer Ort geworden. Doch die Netzwerke der Kunstwelt sind international.“ Angelika Li, Kuratorin der aktuellen Schau, hat sie bei Veranstaltungen im „Haus der elektronischen Künste“ in Basel kennengelernt und kam so mit ihr ins Gespräch. 2019 hat Birgit Krueger dann deren erste „Homeland in Transit“-Ausstellung gesehen, die als Reihe konzipiert ist. Da hatte es sofort gezündet: „Ich fand ihren Blick auf ihre Heimat Hongkong interessant, der sich auch stark auf die Alltagskultur richtet. Da besteht eine Parallele mit unseren eigenen künstlerischen Interessen. Auch wir verstehen Kunst als etwas, das seinen Platz im Alltag der Menschen finden sollte.“

Zum Gedenken an das Tian’anmen-Massaker am 3. und 4. Juni 1989 in Peking, bei dem Tausende von Menschen den Tod fanden, die für mehr Demokratie in China protestiert hatten, wurde die kleine Ausstellung im Kunstfenster nun am vergangenen Freitag eröffnet. Mit aktuellem Bezug, denn in Hongkong hat die Polizei die Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Massakers aufgelöst und die Aktivistin und Organisatorin Chow Hang-Tung festgenommen, wie unter anderem die Presseagentur dpa berichtet. Seit vergangenem Jahr sind auch in dieser Metropole die Mahnwachen verboten, die an diesem geschichtsträchtigen Tag ab 1990 abgehalten wurden.

Der 1972 geborene Künstler Luke Ching hat 2014 ein kurzes Video mit dem Titel „Pixel“ geschaffen, das die Hand eines Gedenkfeierteilnehmers zeigt. In der Handfläche funkelt ein kleines Licht, das später aber mit einer feinen Spur aus Rauch erlischt und gleichsam an die Seelen der Verstorbenen erinnert.

Auch Yim Sui Fong, Jahrgang 1983, greift mit ihrer Videoinstallation „Black Bird Island“ (2017) ein Ereignis der Landesgeschichte auf. Zu Ehren der Wiedereingliederung Hongkongs in die chinesische Volksrepublik wurden aus dem ganzen Land Tauben in die Stadt gebracht und freigelassen, damit sie dank ihres phänomenalen Ortssinns wieder die Heimreise antreten konnten. Allerdings machte das Wetter den Tieren einen Strich durch die Rechnung und einige Hundert Vögel waren nicht in der Lage, nach Hause zu fliegen, sondern blieben orientierungslos vor Ort. Ihr Schicksal zeigt eine Parallele zu den Einwohnern Hongkongs auf, die ihre gewohnte Heimat verloren hatten und sich im fremdartigen Mutterland neu orientieren mussten – nachdem die Briten ihre ehemalige Kronkolonie 1997 an China übergeben hatten und sich vieles am Sonderstatus änderte.

Die Vögel werden von ihrer Heimat abgeschnitten.

Eingeflochten ist die Episode eines Mädchens, das von Mitschülern gehänselt wird. Dieses ungleiche und unfaire Verhältnis beobachtet eine der Tauben. Der Clip handelt vom Ausgestoßensein in mehrfacher Weise. Der zugehörige Text impliziert, dass Taube und Mädchen darauf reagieren werden, wenn sie groß sind.

Eine Verbindung der Themen Natur und Politik schafft die Künstlerin Lo Lai Lai Natalie mit ihrem Beitrag „Weather Girl, Halo Daisy“. Diese Videosequenz entstand 2016 und zeigt das Phänomen einer sogenannten Haloerscheinung. Haloringe entstehen durch die Brechung und Spiegelung von Licht an hexagonalen Eiskristallen. Zu dieser wunderschönen und seltenen Naturerscheinung kontrastieren Gänseblümchen, an denen der Wind zerrt. Hinter der ruhigen Bildsprache liegen ernste, oft soziale und persönliche Themen. Und insofern mischen sich meteorologische Phänomene mit emotionaler Symbolik – angedeutet beispielsweise durch Schweiß und Tränen. „Cold Fire“ (2019/2020) derselben Videokünstlerin wiederum thematisiert Unsicherheiten, Todesangst und Todesahnung. Sanft gleiten die Wolken während eines Flugs vorbei, doch die Maschine stürzt ab. Die Überlebenden treiben in ihren Rettungsbooten einer ungewissen Zukunft entgegen.

Die Verbindung von Natur, Sprache und Kunst hat in China eine lange Tradition. Natur wird sozusagen zum Medium oder zur Plattform, um Themen und Emotionen auszudrücken, denen nicht immer Positives zugrunde liegt. Auffallend und bedrückend zugleich sind die pessimistischen Texte, die Bezug auf die momentane Lage in China – ein Land der Überwachung – nehmen. Dazu sagt Birgit Krueger: „Das Erzählen von Geschichten in Form von Videos als Technik, einer schwierigen Situation zu begegnen, mag typisch für die Kultur Hongkongs sein und ist zugleich etwas universell Menschliches.“

Nicht immer ist es einfach, diese Art von Kunst- und Kulturverständnis der westlichen Welt zu verdeutlichen, weswegen Angelika Li es sich zur Aufgabe gemacht hat, das lokale Kunstschaffen in Hongkong mit ihrer Ausstellungsserie „Homeland in Transit“ einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Erinnerung an die Opfer des Tian’anmen-Massakers: Das Licht wird später erlöschen.

Erinnerung an die Opfer des Tian’anmen-Massakers: Das Licht wird später erlöschen.

Vor Ort und im Netz

Wer sich mit den Arbeiten auseinandersetzen möchte, kann dies bis zum 22. Juli von 9 bis 23 Uhr auf dem Wolkenhof tun. Sie sind vor Ort im Kunstfenster, Wolkenhof 14, Murrhardt, und auf der Website www.einfenster.net zu sehen.

Im Verlauf des Julis wird – abhängig von der Coronalage – die Videopräsentation um eine Rauminstallation erweitert, die vor Ort am Wolkenhof besucht werden kann.

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Erstellt:
8. Juni 2021, 06:00 Uhr

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