Titus Simons neues Buch: Zwischen Widerstand und Aufbruch
Titus Simon legt mit „Extreme Fallhöhe“ ein Buch über die 1970er-Jahre vor. In seiner Erzählung mit vielen spannenden Details blickt er auf eine Zeit des Aufbegehrens, Austestens und Suchens nach neuen Ausdrucksformen zurück, die auch mit ganz persönlichen Risiken verbunden war.
Von Christine Schick
Murrhardt/Oberrot. Nach dem Band „Wir Gassenkinder“, in dem sich Titus Simon seinen frühen Jahren in Murrhardt und Umgebung widmet und ein Zeitporträt der 1960er-Jahre in der schwäbischen Provinz entwirft, spinnt er nun den Faden weiter, um das Jahrzehnt in den Blick zu nehmen, das für viele mit den Schlagworten Revolte, Rockmusik und Drogenkonsum verbunden ist. Neben einer Reihe von Zeitzeugengesprächen, die er für das Buch geführt hat, konnte Simon auch auf seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreifen. Der Titel „Extreme Fallhöhe“ macht kenntlich, dass sein Lebensweg in dieser Zeit immer wieder auf Situationen zusteuerte, die mit persönlichen, aber auch zeittypischen Risiken einhergingen. „Die 70er-Jahre sind für mich mit einem großen Freiheitsdrang verbunden und dem Gefühl inklusive einer gewissen Selbstüberschätzung, die Welt verändern zu können“, sagt er.
Dabei war die Ausgangslage für ihn auch aus familiären Gründen eine besondere. Durch die Trennung seiner Eltern hatte er einerseits mehr Freiheit und Spielraum als viele andere Jugendliche in seinem Alter, andererseits bedeutete die Tatsache, früh selbstständig zu sein, für ihn: „Ich hab’ schon in jungen Jahren die Erfahrung gemacht, auf mich alleine gestellt zu sein.“ Ein Umstand, der ihm in so manch kritischer Situation zu dem entscheidenden Quäntchen mehr Vorsicht verholfen und ihn in einem umfassenderen Sinn selbstbewusster gemacht hat, wie er auch mit Blick auf das neue Buch reflektiert.
Zu den Gefahren der Zeit gehörten das Experimentieren mit Drogen, das nicht wenige seiner Weggefährten später mit dem Leben bezahlt haben, in seinem Fall aber auch das Reisen, meist als Tramper, in weit entfernte Länder wie Syrien oder Marokko. „Meine Eltern wussten oft überhaupt nicht, wo ich war.“ Freiheitsdrang und Widerstandsgeist trafen auf ein Milieu und eine Konstellation, die in dieser Zeit nicht hätten konträrer sein können: Als sein Antrag als Kriegsdienstverweigerer mehrfach abgelehnt worden war, entschloss er sich, um nicht mehr als Fahnenflüchtiger zu gelten, bei den Panzergrenadieren in Wetzlar vorstellig zu werden. Allerdings nicht, um sich dem Bundeswehrdienst zu fügen, sondern um ihn weiterhin zu verweigern – vor dem Hintergrund der Brutalität des Vietnamkriegs und des Einmarschs der Russen in der Tschechoslowakei.
Diese Episode ist im Buch ausführlich dargestellt und umfasst neben brenzligen auch skurrile Situationen. „Die Verantwortlichen waren ratlos, wussten zunächst nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten“, sagt Titus Simon. Doch nach einem anfangs irritierten Verharren reagierten Einzelne und Institution doch auf die Verweigerung, sich einzufügen. „Manchen war ich einfach lästig, manche hätten mich am liebsten verprügelt.“ Letztlich wurde Titus Simon in Arrest genommen, immer wieder und immer länger – er verbrachte insgesamt 52 Tage in einer Einzelzelle. „Das war eine extrem wichtige Erfahrung, zu sehen, was ich aushalten kann und wie stark ich bin. Insofern war die Bundeswehr in einem ganz anderen Sinn eine Schule des Lebens für mich.“ Außerdem begegnete Titus Simon in dieser Zeit der Liebe seines Lebens – seiner späteren Frau Erika Wagner-Simon – und diese Beziehung gab ihm viel Kraft. Ihr ist der Band „Extreme Fallhöhe“ übrigens auch gewidmet.
Als seine Verweigerung schließlich in einem weiteren Verfahren doch anerkannt wurde, hatte Titus Simon die Chance, im Jugendhaus in Ludwigsburg seinen Zivildienst abzuleisten. „Da hat sich bei mir ein Schalter umgelegt“, stellt er fest. Aus einem ehemals faulen Schüler wurde ein junger Mann, der seine Aufgabe leidenschaftlich anging und Teil der Jugendhaus- beziehungsweise Jugendzentrumsbewegung wurde. Es war die Zeit, in der er in einer Gemeinschaft mit anderen das kulturelle und soziale Leben zu gestalten begann – ob ganz konkret in der Ausgestaltung der Räume oder mit Herausgabe einer Zeitschrift und der Organisation von Konzerten.
Viele Begegnungen und emotional aufgeladene Situationen
Spannend machen das Buch vor allem die ausführlichen Schilderungen und die Detailtiefe, durch die nicht nur ein Bild der 1970er-Jahre auf dem Land entsteht, sondern auch immer wieder klar wird, dass das Leben oft mehr Schattierungen aufweist, wenn man genauer hinsieht. Dazu gehören die unterschiedlichen Begegnungen beispielsweise bei der Bundeswehr genauso wie die Tatsache, dass es neben einer manchmal durchschimmernden Tristesse und einer – auch angesichts der RAF – emotional aufgeladenen Zeit viel Freiraum für ein Sich-Ausprobieren gab. Auch Titus Simon hat erlebt, sich im Zusammenhang mit der Terroristenfahndung beispielsweise auf einer gesperrten Autobahn wiederzufinden und – die Hände auf dem Lenkrad – in den Lauf einer Maschinenpistole zu schauen, erzählt er. „Trotzdem war es ein sehr optimistisches Lebensgefühl“, nicht zuletzt aus dem Wunsch heraus, die Gesellschaft auch mitzugestalten.
Sich nochmals in diese Zeit zu vertiefen, resultierte für Simon, der verschiedene Aspekte bereits in seiner historischen Trilogie literarisch verarbeitet hat, aus der Überlegung heraus, dass – ähnlich wie bei „Wir Gassenkinder“ – die 1970er-Jahre in einem großstädtischen, aber weniger in einem ländlichen Milieu bearbeitet worden sind und dass er mit dieser Perspektive einen zwischen Oral History und Literatur angesiedelten Beitrag leisten kann. Ohne eine rückwärtsgewandte Haltung einzunehmen, sagt er: „Sich zu erinnern, ist sinnvoll, um sich die Epoche nochmals zu vergegenwärtigen.“ Der Aufbruch sei auf dem Land ebenso zu spüren gewesen und ein Wandel habe sich in vielen kulturellen und sozialen Initiativen vollzogen. Genauso wenig verharmlost er die Abbruchkanten, die er durch das Schreiben und Erinnern erneut durchlebt hat – wie „den Drogentod eines Freundes, der mich noch mal sehr berührt hat.“
Buch „Extreme Fallhöhe. Eine schwäbische Jugend in den 70er-Jahren“ von Titus Simon erscheint im Silberburg-Verlag. Das Taschenbuch hat 240 Seiten, kostet 16,99 Euro und ist im Buchhandel unter der ISBN 978-3-8425-2443-9 erhältlich.
Vorgänger Bereits in dritter Auflage erschienen, ebenfalls im Silberburg-Verlag, ist der Vorgängerband „Wir Gassenkinder. Eine schwäbische Kindheit in den 60er-Jahren“ von Titus Simon mit 272 Seiten, für 15,99 Euro und mit der ISBN-13: 978-3842522909.
Lesungen Titus Simon stellt zum Welttag des Buchs sein neustes Werk „Extreme Fallhöhe“ am Dienstag, 23. April, um 18.30 Uhr im Heinrich-von-Zügel-Saal, Oetingerstraße 1 in Murrhardt, vor. Die Lesung veranstalten die Stadtbücherei und die Buchhandlung BücherABC gemeinsam. Es folgt eine zweite Lesung zum neuen Erzählband am Donnerstag, 25. April, um 19.30 Uhr in der Bücherei im Bildungszentrum Unterweissach. Ein Gespräch mit Jugendlichen über die Unterschiede der jugendlichen Lebenswelten damals und heute schließt sich an. Weitere Lesungen und Informationen finden sich auf der Homepage unter www.titus-simon.de.
Autor Titus Simon, Jahrgang 1954, ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er studierte Rechtswissenschaften, Sozialarbeit, Pädagogik und Journalistik, arbeitete von 1975 bis 1992 mit jugendlichen Gewalttätern, in der Obdach- und Wohnungslosenhilfe, hatte von 1992 bis 1996 die Professur „Jugend und Gewalt“ an der FH Wiesbaden und ab 1996 für „Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung“ an der Hochschule Magdeburg-Stendal inne. Mittlerweile in Pension ist Titus Simon ehrenamtlich und schreibend tätig. Aufgewachsen in Murrhardt hat er den Bezug zur Walterichstadt auch später nie verloren, lebt aber schon lange in einem Teilort von Oberrot im Kreis Schwäbisch Hall.