Unfassbare 84.000 Neuronen

Unglaublich, aber wahr: So viel steckt in einem winzigen Würfel Mäusehirn

Denken, Emotionen, Bewusstsein: Wie das Gehirn funktioniert, verstehen wir erst in Ansätzen. Für ein Ministück Hirngewebe haben Forscher nun Zelle für Zelle erkundet, wie sie verschaltet sind.

Dieses vom Allen Institute zur Verfügung gestellte Foto zeigt eine Illustration einer Untergruppe von mehr als 1000 der 120.000 Gehirnzellen (Neuronen + Glia) eines Mäusegehirns. Jedes rekonstruierte Neuron hat eine andere zufällige Farbe.

© Allen Institute/Clare Gamlin/dpa

Dieses vom Allen Institute zur Verfügung gestellte Foto zeigt eine Illustration einer Untergruppe von mehr als 1000 der 120.000 Gehirnzellen (Neuronen + Glia) eines Mäusegehirns. Jedes rekonstruierte Neuron hat eine andere zufällige Farbe.

Von Annett Stein (dpa)/Markus Brauer

Ein Kubikmillimeter: Das ist etwa so viel wie ein winziger Mohnsamen. Wie viele Nervenzellen hat wohl ein so winziger Würfel Mäusegehirn?

Unfassbare rund 84.000 Neuronen, wie Teams von insgesamt mehr als 150 Forscher in einer Serie aufeinander aufbauender Studien berichten. Außerdem gebe es etwa eine halbe Milliarde Kontaktstellen zwischen Nervenzellen – Synapsen genannt -und rund 5,4 Kilometer neuronale Verdrahtung, heißt es.

22 Jahre ununterbrochene HD-Videowiedergabe

Das entstandene Schaltbild und die dazugehörigen Daten haben eine Größe von 1,6 Petabyte. Das entspricht 22 Jahre ununterbrochener HD-Videowiedergabe, wie es vom beteiligten Allen Institute, einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung, weiter heißt.

Obwohl nur eine sandkornkleine Gewebeprobe untersucht wurde, helfe der vollständige funktionelle Schaltplan dieses Hirnwürfels zu beschreiben, wie das Gehirn insgesamt organisiert ist und wie verschiedene Zelltypen zusammenarbeiten.

Die Ergebnisse des Gemeinschaftsprojekts „MICrONS“ (Machine Intelligence from Cortical Networks) sind in „Nature“-Fachjournalen veröffentlicht worden.

Generell bestehen Gehirne aus einem Netzwerk von Zellen, einschließlich der Neuronen, die durch Reize aktiviert und durch Synapsen verbunden werden. Grundlage kognitiver Funktionen ist das Zusammenspiel zwischen neuronaler Aktivierung und der Vernetzung der Zellen.

The most complete map of a brain has just been unveiled today - marking not just a scientific marvel but a step towards the 'impossible' goal of understanding the elusive origins of thought, emotion, and consciousness. Learn more via a new blog by Science Director… pic.twitter.com/GBuCtt6isN — Science Museum (@sciencemuseum) April 9, 2025

Ein Pionier hielt das für unmöglich

Im Jahr 1979 hatte der berühmte Molekularbiologe Francis Crick (1916–2004) dem Allen Institute zufolge erklärt, es sei unmöglich, einen genauen Schaltplan auch nur für einen Kubikmillimeter Hirngewebe und die Art und Weise, wie alle seine Neuronen feuern, zu erstellen.

In den letzten sieben Jahren habe das weltweite „Microns“-Team dieses Ziel nun realistischer werden lassen. Crick hatte mit James Watson und Maurice Wilkins das berühmte Doppelhelix-Modell der Erbgutsubstanz DNA entwickelt, ein Meilenstein in der Biologie.

Ein Kubikmillimeter des Gehirns in 28.000 Schichten zerlegt

Die „Microns“-Wissenschaftler zeichneten zunächst mit speziellen Mikroskopen die Aktivität von rund 75.000 Neuronen in einem einen Kubikmillimeter großen Teil des visuellen Kortex einer Maus auf, die über Tage hinweg verschiedene Videoaufnahmen vorgespielt bekam. Das Tier war genetisch so verändert, dass seine Neuronen ein fluoreszierendes Protein aussendeten, wenn sie aktiv waren.

Anschließend wurde die Maus getötet und derselbe Kubikmillimeter des Gehirns wurde in rund 28.000 Schichten - also unglaublich dünne Scheibchen zerlegt. Von jeder Schicht wurden hochauflösende Bilder angefertigt. Ein anderes Team wiederum setzte Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen ein, um die Zellen und Verbindungen in 3D zu rekonstruieren.

Bisher größter Schaltplan des Gehirns

Zusammen mit den Aufzeichnungen der Hirnaktivität war das Ergebnis der bisher größte Schaltplan des Gehirns, wie das Allen Institute mitteilte. Insgesamt mehr als 200.000 Zellen, davon etwa 84.000 Neuronen, 524 Millionen synaptische Verbindungen und mehrere Kilometer Axone – Verzweigungen, die zu anderen Zellen führen – seien identifiziert worden. Unter anderem im Bereich der Axone würden die gewaltigen Datensätze derzeit weiter geprüft und verbessert.

Die Ergebnisse böten neue Möglichkeiten zur Untersuchung des Gehirns, heißt es von der Forschungseinrichtung. Das betreffe auch Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Autismus und Schizophrenie, bei denen die neuronale Kommunikation gestört ist.

„Wenn man ein kaputtes Radio hat und den Schaltplan kennt, kann man es besser reparieren“, erklärt Mitautor Nuno da Costa. In Zukunft könne mit der Blaupause die Gehirnverdrahtung in einer gesunden Maus mit der in einem Krankheitsmodell verglichen werden.

Neues Prinzip der Hemmung im Gehirn

Zu den überraschendsten Erkenntnissen der Teams gehörte den Angaben zufolge die Entdeckung eines neuen Prinzips der Hemmung im Gehirn. Bisher sei angenommen worden, dass hemmende Zellen – also solche, die neuronale Aktivität unterdrücken – einfach direkt die Wirkung anderer Zellen dämpfen.

Tatsächlich sei das Geschehen aber sehr viel komplexer: Hemmende Zellen sprächen Zielzellen teils sehr selektiv in einem System der Koordination und Kooperation an. Einige hemmende Zellen arbeiten zusammen und unterdrücken mehrere erregende Zellen, während andere präziser nur bestimmte Typen ansprechen, wie die Forscher erläutern.

Abweichungen von Art zu Art und Tier zu Tier?

Zu den Einschränkungen der Analysen zählt demnach, dass die Daten von einem einzigen Tier einer einzigen Art stammen und daher zunächst nur eingeschränkt verallgemeinerbar sind. Zudem enthielten sie von bestimmten Zelltypen jeweils nur wenige Exemplare.

Der visuelle Kortex von Mäusen habe Ähnlichkeiten mit dem anderer Säugetiere einschließlich des Menschen, erläutern die Forscher. Es handle sich aber nur um eine kleine Region des Gehirns. Um komplette Schaltkreise zu untersuchen, seien umfassendere Karten erforderlich. Wofür aber Technik und Methoden erst weiter verbessert werden müssten.

Großer Schritt nach vorn

„Trotz dieser Einschränkungen stellt diese Arbeit einen großen Schritt nach vorn dar und bietet eine unschätzbare Gemeinschaftsressource für zukünftige Entdeckungen in den Neurowissenschaften“, schreiben Mariela Petkova und Gregor Schuhknecht von der Harvard University in Cambridge in einem begleitenden Kommentar in „Nature“.

Das „Microns“-Projekt sei der bisher am umfassendsten zusammengestellte Datensatz, der die Gehirnstruktur mit der neuronalen Aktivität eines aktiven Säugetieres verbinde.

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Erstellt:
9. April 2025, 19:41 Uhr

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