80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz

Unsere Vergangenheit ist nicht vorbei

Vor 80 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Von den Überlebenden müssen wir lernen, meint unsere Autorin Hilke Lorenz.

In Zügen wurden Menschen ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht und dort ermordet.

© Wiener Library File/dpa

In Zügen wurden Menschen ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht und dort ermordet.

Von Hilke Lorenz

Befreiung. Das klingt nach einem Versprechen für die Zukunft. Vor allem verspricht es: Freiheit – ein Zustand, den sich alle Menschen für ihr Leben wünschen. Für die Häftlinge im Konzentrationslager Auschwitz war der 27. Januar 1945 ein Tag der Befreiung. Zumindest im ersten Erleben. So steht er in den Geschichtsbüchern.

Wenn die Menschen Glück hatten, überlebten sie die Befreiung – und fanden irgendwie zu einer neuen Existenz, die nichts mit ihrer alten zu tun hatte. Höchstens mit der Sehnsucht danach. Denn die Menschen, zu denen sie hätten zurückkehren können, lebten meist nicht mehr. Woran knüpft man in einer solchen Situation an?

80 Jahre ist das nun her – ein Menschenleben, drei Generationen. Das ist viel Zeit, könnte man meinen. Aber die existenziellen Erfahrungen setzen sich auch in der nächsten und in der folgenden Generation noch fort. Bei uns, in anderen Ländern und auch in Israel. Für ein Menschheitsverbrechen wie den industriellen Mord an Juden, sexuellen Minderheiten, Kranken, sogenannte Asozialen, Sinti, Roma und anderen sind 80 Jahre keine Zeit. Auch Kinder und Kindeskinder der Überlebenden sind dazu verdammt, mit den Folgen dieses Zivilisationsbruchs zu leben – oft bestanden diese aus Schweigen.

Für Überlebende gibt es kein Ende

Denn wer überlebt hat, wurde nicht wirklich befreit. Er musste die erlittenen Demütigungen, Erniedrigungen und die Entrechtung in sein Leben integrieren. Befreit von ihren Erlebnissen waren und sind die Überlebenden der NS-Zeit bis an ihr Lebensende nicht. Sie kämpfen mit Albträumen und einer Welt, die inzwischen schon wieder viel zu oft glaubt, das Geschehen neu sortieren, zu verhöhnen und in jüngster Zeit auch neu interpretieren zu dürfen.

Wer wirklich verstanden und auch emotional begriffen hat, was in Europa unter der menschenverachtenden Herrschaft der Nationalsozialisten geschehen ist, der kann heute nicht ernsthaft Opfer zu Tätern umdeuten. Das aber geschieht, wenn im großen postkolonialen Diskurs weißen Opfern wie den Israelis im Kampf gegen die terroristische Hamas auf Grund ihrer Hautfarbe ihre Leidens- und Lebensgeschichte abgesprochen wird. Dieser sich hinter intellektueller Raffinesse versteckende Antisemitismus und die damit einhergehende Geschichtsvergessenheit sind unerträglich.

Es waren die mutigen Überlebenden, die sich aus der Deckung wagten, um von ihren Erlebnissen zu erzählen. Es sind wenige, die es noch immer tun. Vom Alter gezeichnet, aber mit einer Resilienz ausgestattet, von der wir Heutigen nur träumen können. Die 103-jährige Margot Friedländer oder der 88-jährige Ukrainer Roman Schwarzman, der bei der Feierstunde im Bundestag sprechen wird, sind Beispiele dieser bewundernswerten Überlebensfähigkeit und Kraft. Dem Schlimmsten, was einem Menschen angetan werden kann, trotzen sie die Botschaft ab, dass das Überleben einen Sinn gehabt haben muss – und wurden zu Mahnern.

Defizitäre Erinnerung

Müsste das nicht auch für die Gesellschaft insgesamt gelten? Auch für die Nachfahren der Mitläufer, der Unentschiedenen und der Täter? Das, was sie ihr Land nannten, lag vor 80 Jahren in Trümmern, ihr moralischer Kompass war zerstört. Müssten wir aus dieser großen menschengemachten Katastrophe nicht zwangsläufig die Schlussfolgerung ziehen: Es gibt keine bessere Staatsform als die Demokratie und den Rechtsstaat. Warum kommt uns die sicher geglaubte Resilienz gegen die Kräfte, die beides in Frage stellen, zunehmend abhanden? Warum erinnern wir nicht viel öfter an das, was wir in den 80 Jahren erreicht haben und bewahren sollten? Was wir verlieren würden, wissen wir.

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Erstellt:
24. Januar 2025, 11:32 Uhr

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