Nach der Verhaftung von Ekrem Imamoglu
Urwahl gegen Erdogan – Türkei im Ausnahmezustand
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu wird trotz zunehmender Massenproteste inhaftiert – und fordert Recep Tayyip Erdogan dennoch heraus. Seine Urwahl zum Herausforderer des Präsidenten soll ein Fanal werden.

© dpa/Francisco Seco
Die Proteste gegen die Verhaftung von Ekrem Imamoglu gehen unvermindert weiter.
Von Susanne Güsten
Im Café „Sima“ im Istanbuler Stadtteil Beyoglu geben sich am Sonntag die Gäste die Klinke in die Hand. Damit wollen sie Widerstand leisten gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan. „Sie wollen, dass wir alle zuhause bleiben und uns nicht wehren“, sagt die 38-jährige Lektorin Sirin über Erdogans Regierung. Doch Sirin betont: „Wir versuchen, die Hoffnung zu bewahren.“
Das „Sima“ ist an diesem Tag eines von Tausenden inoffiziellen Wahllokalen in der Türkei. Die Oppositionspartei CHP will den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu per Urwahl zum Präsidentschaftskandidaten und Herausforderer von Präsident Erdogan küren. CHP-Mitglieder und auch Anhänger anderer Parteien dürfen mitstimmen. Imamoglus Sieg steht am Sonntag bereits fest, und die hohe Beteiligung an der Abstimmung deutet an, dass viele Türken das Votum als Gelegenheit nutzen, um Erdogan einen Denkzettel zu verpassen.
Es ist eine Wahl im Ausnahmezustand, mitten in den schwersten Protesten in der Türkei seit den Gezi-Unruhen vor zwölf Jahren. Noch während die Oppositionsanhänger am Sonntag ihre Stimmen abgeben, wird Imamoglu von einem Richter wegen Korruption in Untersuchungshaft gesteckt. Klar ist: Erdogan will Imamoglu loswerden.
Sirin hat seit Imamoglus Festnahme am vorigen Mittwoch jeden Abend am Istanbuler Rathaus an Protestkundgebungen teilgenommen. Die Zahl der Teilnehmer wächst mit jedem Tag. Am Samstagabend versammelten sich dort nach CHP-Angaben etwa eine Million Menschen. Auch am Sonntagabend werde sie wieder am Rathaus sein, sagt Sirin. Ekrem Imamoglu selbst wird nicht kommen können. Er soll im Laufe des Tages in ein Gefängnis gebracht werden.
Erinnerungen an den Fall Selahattin Demirtas
Da soll er auch bleiben, wenn es nach Recep Tayyip Erdogan geht, denn er sieht in Imamoglu seinen gefährlichsten Konkurrenten um das Präsidentenamt. Nicht einmal Erdogans Berater glaubten an die offizielle Darstellung, wonach unabhängige Richter und Staatsanwälte gegen Imamoglu ermitteln, meint Selim Koru, Türkei-Experte der US-Denkfabrik FPRI und Autor des Blogs „Kültürkampf“. Die Regierung habe eine klare Botschaft an die Opposition, sagte Koru: „Ihr könnt Dampf ablassen, aber ihr könnt Erdogan nicht ernsthaft gefährlich werden. Wenn ihr es doch versucht, sperren wir euch ein und werfen den Schlüssel weg.“ Auf ähnliche Weise entledigte sich Erdogan vor fast neun Jahren des Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas, der die Opposition stärkte und Erdogans Wiederwahl gefährdete. Demirtas sitzt bis heute im Gefängnis, obwohl das Europäische Menschenrechtsgericht seine Freilassung verlangt.
Imamoglu ist für Erdogan noch gefährlicher als Demirtas. Der Bürgermeister hatte bisher eine sichere Machtbasis in der 16-Millionen-Stadt Istanbul, führte in allen Umfragen und wollte sich bei der CHP-Urwahl am Sonntag ein landesweites Mandat holen, um Erdogan bei der nächsten Wahl 2028 herauszufordern. Deshalb will der Präsident Imamoglus Karriere beenden. Ärger nimmt Erdogan dabei in Kauf.
Hunderttausende sind auf den Straßen, die Börse und die Lira stürzten ab. Die Behörden sperren die Zufahrtsstraßen nach Istanbul, um weiteren Zulauf für die Demonstranten zu verhindern, nehmen Hunderte der Protestierenden fest und verbieten alle Kundgebungen für eine Woche. Zehntausende Polizisten mit Tränengas und Wasserwerfern sind rund um die Uhr im Einsatz. Die Rundfunkaufsichtsbehörde droht Fernsehsendern mit Lizenzentzug, wenn sie die Oppositionsveranstaltungen übertragen.
„Das sind die größten Proteste seit den Gezi-Unruhen von 2013, und das ist die gefährlichste Bedrohung für Erdogans Macht seit dem Putschversuch von 2016“, sagt Howard Eissenstat, Türkei-Experte an der St.-Lawrence-Universität in den USA und am Institut für Türkei-Studien der Universität Stockholm. Dennoch sei die Lage für Erdogan noch beherrschbar, erklärte Eissenstat unserer Zeitung. Die türkische Opposition sei nicht geeint und das außenpolitische Umfeld mit Donald Trump im Weißen Haus und der sicherheitspolitischen Verunsicherung Europas günstig für den Präsidenten.
Allerdings läuft für Erdogan auch nicht alles nach Plan. Bei früheren Krisen wollte die CHP als größte Oppositionspartei keine Straßenproteste, weil sie den Vorwurf vermeiden wollte, dass sie versuche, das Land zu destabilisieren. Diesmal rief der CHP-Chef Özgür Özel die Menschen jedoch sofort zu Protesten auf – und die Türken folgten seinem Ruf. Inzwischen gibt es Demonstrationszüge von Edirne im Nordwesten der Türkei bis nach Diyarbakir im Südosten.
Erdogan geht brutal und doch dosiert vor
Überraschend verzichtete die Justiz am Sonntag auf einen zusätzlichen Haftbefehl gegen Imamoglu wegen des Vorwurfs der Zusammenarbeit mit der Terrorgruppe PKK. Dieser Schritt hätte vermutlich die sofortige Absetzung des Bürgermeisters und die Ernennung eines Ankara-treuen Zwangsverwalters für Istanbul nach sich gezogen, was die Wut der Regierungsgegner noch mehr angefacht hätte. Möglicherweise will Erdogans Regierung diesen Schlag gegen Imamoglu zumindest vorerst nicht führen, um die Lage nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen. Von seinem Ziel, Ekrem Imamoglu kaltzustellen, wird Recep Tayyip Erdogan aber nicht lassen. Davon ist auch Türkei-Experte Selim Koru fest überzeugt. Er betont: „Hier geht es um die Macht.“