Von der Flucht und dem Ankommen

Das Zentrum für Vielfalt hat gestern vor seinen Räumen in der Murrhardter Hauptstraße anlässlich des Weltflüchtlingstags informiert. Geflüchtete haben auf Tafeln verschiedene Aspekte zu ihren Herkunftsländern zusammengetragen und das Gespräch gesucht.

Vor dem Zentrum für Vielfalt haben Menschen, die in Murrhardt beziehungsweise im Rems-Murr-Kreis als Geflüchtete eine neue Heimat gefunden haben, landestypische Köstlichkeiten aufgetischt. So lässt sich ins Gespräch kommen. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Vor dem Zentrum für Vielfalt haben Menschen, die in Murrhardt beziehungsweise im Rems-Murr-Kreis als Geflüchtete eine neue Heimat gefunden haben, landestypische Köstlichkeiten aufgetischt. So lässt sich ins Gespräch kommen. Foto: Stefan Bossow

Von Christine Schick

Murrhardt. Seit 2001 wird der Weltflüchtlingstag jedes Jahr am 20. Juni begangen. Wie die UNO-Flüchtlingshilfe es formuliert, ist dies „der Tag, der daran erinnert, dass Millionen von Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen veröffentlicht dazu den jährlichen Bericht ,Global Trends‘, der die weltweit dramatische Situation in nüchterne Zahlen fasst.“ Auf einem Aufsteller vor dem Zentrum für Vielfalt in Murrhardt ist solch eine nüchterne Zahl zu lesen: „Weltweit sind 114 Millionen Menschen auf der Flucht“, mit der Anmerkung, dass hinter jedem einzelnen Mensch ein Schicksal steht.

Mitglieder des hauptamtlichen Teams sowie viele ehrenamtliche Engagierte des Zentrums für Vielfalt in Murrhardt – die meisten von ihnen selbst geflüchtet – bestücken weitere Schautafeln mit Bildern und Informationen zu den verschiedenen Ländern. Mitgebracht haben sie außerdem Kostproben von landesspezifischen Köstlichkeiten, sodass sich bei einem Tee oder Kaffee und beispielsweise afghanischer vegetarischer Samosa (Teigtasche) oder türkischer Linsenköfte (Fleischbällchen) ins Gespräch kommen lässt. Zwar war der Weltflüchtlingstag am vergangenen Donnerstag, aber der gestrige Freitag hat den Vorteil, dass die Stadt mit dem Wochenmarkt belebter und die Fußgängerzone für den Fahrzeugverkehr auch gesperrt ist. So gibt es genügend Raum und Ruhe für Mitglieder und Interessierte in der Hauptstraße.

Flüchtlinge geben Einblick

Wer sich die Tafeln anschaut, stößt neben den Beschreibungen der Länder und Fluchtursachen beispielsweise auf das Zitat eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings aus Afghanistan: „Es gab Feuer im Boot, die Küste war in Sicht. Um zu überleben, sprangen wir ins Meer. Einige konnten nicht schwimmen. Am Strand wartete ich noch stundenlang auf einige bekannte Gesichter, die von einem besseren Leben träumten. Ich sah sie nie wieder. Das Meer wird sie behalten.“

Auf einer weiteren Tafel sind Bilder des Kriegs in der Ukraine zu sehen – zerbombte Häuserfronten und verlassene Ruinen. Daneben steht zu lesen, dass fast zwei Drittel der Kinder ihr Zuhause verlassen mussten und nach einer Schätzung rund 1,5 Millionen Kinder von posttraumatischen Belastungsstörungen bedroht sind. Olena Butova, die kurz nach Beginn des Kriegs in der Ukraine mit ihrer Familie nach Murrhardt kam und nun zum hauptamtlichen Team des Zentrums für Vielfalt gehört, sagt nachdenklich: „Das Leben hier ist perfekt und sicher. Wichtig finde ich aber, sich bewusst zu machen, dass das an einem anderen Ort ganz anders sein kann.“ Nach der Flucht habe sie sich unheimlich gut in Murrhardt aufgenommen gefühlt und insofern möchte sie nun selbst helfen und etwas zurückgeben. Wie viele andere Betroffene hat sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen komplett auf den Kopf gestellt.

In Syrien herrscht seit 2011 Krieg. „Wir sind übers Mittelmeer gekommen“, erzählt Verehan Ganama, die sich – damals 19 Jahre alt – gemeinsam mit ihren zwei Geschwistern auf die Flucht begeben hat. Die Situation sei von politischer Unterdrückung geprägt gewesen und man habe nie sicher sein können, wann die nächsten Bomben niedergehen würden. „Die Lage war so schlimm und ist es bis heute“, sagt sie und dass sie Angst um ihre Eltern hat, die zurückbleiben mussten. Nach neun Jahren hat sie sich ein Leben in Murrhardt aufgebaut und als Arzthelferin in Backnang gearbeitet. Bis ihre kleine Tochter sich angekündigt hat, die sie nun gemeinsam mit ihrem Mann Ibrahim Hassanain, der aus Ägypten kommt, aufwachsen sehen kann. Den Menschen in Murrhardt und Umgebung möchte sie vermitteln: „Wir sind offene Menschen, wollen die Menschen hier kennenlernen und uns beteiligen und integrieren.“ Sie wünscht sich, Teil der Gemeinschaft zu sein, und formuliert dazu ein plastisches Bild: Wie einer der Finger an der Hand ganz aktiv mit dabei sein.

Nawid Parsa, der im hauptamtlichen Team des Zentrums für Vielfalt arbeitet, steht bei Asef Husseini. Beide Männer kommen aus Afghanistan und wissen um die aktuellen Diskussionen in Deutschland im Zusammenhang mit der Gewalttat eines Afghanen in Mannheim. Asef Husseini sagt ganz offen, dass es Afghanen gebe, die Probleme machen, und ihm dies leid tue. „Aber es sind auch nicht alle gleich“, stellt er fest. Nawid Parsa nickt. Später ergänzt der Familienvater, dass sie nicht selbst entschieden hätten, ihr Land zu verlassen. „Wir hatten keine Wahl.“ Gleichzeitig möchte er an die positiven Dinge anknüpfen und zeigt auf die bereitgestellten Köstlichkeiten wie Maulbeeren oder Samosa, bei denen sich eine Murrhardterin bedient. Sie freut sich sehr über die Aktion und Parsa sagt: „Wir möchten in Frieden hier leben.“

Zentrum für Vielfalt und Pyramidea

Zentrum Das Zentrum für Vielfalt findet sich in der Hauptstraße 7, ganz in der Nähe des Murrhardter Marktplatzes. Wer sich für ein ehrenamtliches Engagement interessiert, kann sich bei Jochen Schneider unter jochen.schneider@pyramidea.de melden. Weitere Infos zum Verein und zu den aktuellen Vorhaben inklusive Kontaktadressen gibt es im Netz unter http://pyramidea.de.

Träger Das Zentrum für Vielfalt ist in der Trägerschaft von Pyramidea. Pyramidea ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Stuttgart, der sich für Toleranz in der Gesellschaft einsetzt und im Jahr 2017 von Menschen mit Fluchterfahrung gegründet wurde, die sich gesellschaftliche Vielfalt, ein friedvolles Miteinander und den Abbau von Vorurteilen gegenüber allen Menschen zum Ziel gesetzt haben.

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Erstellt:
22. Juni 2024, 06:00 Uhr

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