Von der Urmutter der Vampire
Friedhelm Schneidewind hat bei der Volkshochschule Murrhardt Überliefertes und Geschichten um die Figur Lilith vorgestellt. Sie lässt sich unter anderem als eine selbstbewusste und für die Männerwelt auch bedrohliche Gestalt lesen und wird in Literatur und Film gern aufgegriffen.
Von Christine Schick
Murrhardt. Das Zimmertheater der Volkshochschule Murrhardt ist ein stimmiges Ambiente für den Auftritt von Lilith, die in unzähligen Geschichten auftaucht und insofern ihren Einfluss auch heute noch geltend macht. Friedhelm Schneidewind hat sich als Dozent und Autor mit der Figur beschäftigt und gibt in seinem Vortrag Einblick über diese Spurensuche.
Sie befasst sich damit, wann, wo und wie Lilith in weitestem Sinne kulturell zutage tritt, wieder aufgegriffen und verarbeitet wird – von ersten vorchristlichen Überlieferungen bis zur aktuellen Vampirserie. Lilith lässt sich von der modernen Warte aus als eine Art Urmutter der Vampire fassen, erläutert Schneidewind. „Es ist besser, ihr nicht zu begegnen, jedenfalls wenn man ein Mann ist“, stellt er mit einem Schmunzeln fest. Zur Einstimmung liest er eine eigene kurze Geschichte („Sanvai, Sansanvai und Semangloph“), die von Lilith ähnlich wie im Talmud erzählt.
Eine gefährliche Sturmdämonin
Anschließend taucht der Dozent in die mythologischen und biblischen Ursprünge ein. Es wird schnell klar, dass es mit diesem Wesen ungemütlich werden kann, kommt Lilith doch beispielsweise im Gewand einer kindermordenden und blutsaugenden Sturmdämonin, die kannibalistische Tendenzen hat, daher. Auch Männer stehen auf ihrem Speiseplan, so Schneidewind.
In der Bibelübersetzung Luthers wird Lilith als Kobold interpretiert, andere Fassungen finden andere Bilder, aber Lilith taucht in der Bibel nur indirekt oder in Andeutungen auf, was sich für Friedhelm Schneidewind auch im Sinne einer kulturellen Tradition liest – der Vorstellung, dass der Mann der Frau überlegen ist. Der Hintergrund dazu wird klarer, als der 65-Jährige auf Erzählungen aus dem babylonischen Talmud und dem „Alphabet des ben Sira“ eingeht. Von Letzterem ausgehend liest sich die Schöpfungsgeschichte als heftiger Konflikt: Gott erschuf Adam und stellte ihm eine Gehilfin, Lilith, aus der gleichen Erde zur Seite, damit dieser nicht allein sei. Als Ebenbürtige wollte Lilith nicht unter ihm liegen. Weil sie aber kräftemäßig unterlegen war, wehrte sie sich in anderer Form – sprach den unaussprechlichen Gottesnamen aus und flog davon. Adam wandte sich an Gott, der daraufhin drei Engel entsandte, um sie zurückzubringen. Die drohten mit Strafe – dass jeden Tag 100 ihrer Kinder sterben. Lilith verweigerte die Rückkehr und sprach von ihrer Aufgabe, kleine Kinder zu verderben (über Knaben habe sie acht Tage, über Mädchen 20 Tage Gewalt). Sie unterbreitete ein Gegenangebot: „Ich schwöre euch im Namen des lebendigen und großen Gottes: Wenn ich eure Namen auf einem Amulett geschrieben sehen werde, dann werde ich das Kind nicht schädigen.“ Eine weitere Lesart ergibt sich aus Überlieferungen des Talmuds, nach der Adam und Lilith nach ihrer Trennung mit Teufeln und Teufelinnen Unzucht getrieben haben, Adam 130 Jahre lang, bis Gott Eva erschuf und ihm an die Seite stellte. Aus diesen Verbindungen sind Schreckgeister und Dämonen entstanden – nach manchen Vorstellungen auch Vampirinnen und Vampire.
Unter anderem geht Friedhelm Schneidewind auch auf Beschreibungen von Lilith in der mystischen Tradition des Judentums inklusive Magievorstellungen ein, die ebenfalls drastisch ausfallen. In zwei verschiedenen Quellen taucht sie beispielsweise als Gestalt auf, die Kinder des Nachts erwürgt (wenn die im Schlaf lachen, spielt sie mit ihnen), die Männern ihren Samen raubt, sie tötet oder krank macht. Ein weiteres Bild: Lilith sitzt als lauerndes Gespenst auf Bäumen, von deren Zweigen Blut tropft.
Angesichts dieser Narrative ist es nicht verwunderlich, dass Friedhelm Schneidewind feststellt: „Lilith hat in der Literatur ganz gewaltig Spuren hinterlassen.“ Auf seiner Liste stehen beispielsweise Goethes „Faust“, Teil eins, in dem Lilith in der Walpurgisnacht erscheint, Thomas Manns „Zauberberg“, Lion Feuchtwangers „Jud Süß“ oder die zeitgenössische Fantasyautorin Cassandra Clare mit ihrer „Chroniken der Unterwelt“-Reihe. Auch in Film- und Serienproduktionen haben sich die Geschichten um Lilith niedergeschlagen – wie in den TV-Serien „Supernatural“ oder „Lucifer“.
Lilith als gelehrte, starke Frau
Im Anschluss gibt der Referent noch einen Überblick darüber, wie die feministische, jüdische Theologie die Figur einordnet und interpretiert. Dort wendet sich das Bild grundlegend: Lilith wird als gelehrte, starke Frau gesehen, die sich aber nicht Gottes, sondern Adams Herrschaft entzieht und anders als Eva gegen den Teufel resistent ist. Als zentrale Symbolfigur verkörpert sie einerseits männliche Ängste – Verweigerung gegenüber männlicher Dominanz, Kastrationsangst und Bedrohung der Potenz –, andererseits auch weiblich Ängste – vor der Aggression gegen das eigene Kind, vor Sexualität und lebensbedrohender Mutterschaft.
Dieses Verständnis findet sich auch im Feminismus generell. Dort steht Lilith für die Selbstständigkeit der Frau und den Versuch der Männer, diese mittels einer höheren Autorität zu unterdrücken. Friedhelm Schneidewind beschließt den Abend belletristisch – mit einer weiteren Kurzgeschichte von Susanne Späinghaus („Lilu, Lilitu und Ardat Lili“), die auf seine eigene dialogisch Bezug nimmt.