Neu im Kino: „The Dead don’t hurt“

Von wegen Mythos Wilder Westen

Mit „The Dead don’t hurt“ erfindet Viggo Mortensen das Western-Genre zwar nicht neu, gibt ihm aber neue Gesetze. Daran hat eine Frau, gespielt von der Deutsch-Luxemburgerin Vicky Krieps, entscheidenden Anteil.

Viggo Mortensen und Vicky Krieps in „The Dead don’t hurt“

© Marcel Zyskind/Alamode Film

Viggo Mortensen und Vicky Krieps in „The Dead don’t hurt“

Von Kathrin Horster

Eine staubige Piste, eine als Saloon beschilderte, windschiefe Holzbaracke, davor ein paar erschöpfte Gäule und der Wind, der mit einem verdorrten Tumbleweed spielt. Diese trostlose Stille wird ein Typ mit seinem Colt zerfetzen, als er einem Widersacher eine Ladung Blei zwischen die Augen jagt. Entweder mit vom Speichel festgeklebtem Zigarillostummel auf den Lippen, oder auch nur mit einem Fluch zwischen den Zähnen.

Der Western arbeitet mit starren Codes, zumindest gibt es dieses Vorurteil, bloß ein einziger Film enthielte alles, was das konservative, von wurschtigen John-Wayne-Stellvertretern, schwarz gewandeten Schurken und zu eng geschnürten Frauenzimmern bevölkerte Genre zu bieten hat.

Aus einem One-Night-Stand wird eine Beziehung

Auch Viggo Mortensens Western „The Dead don’t hurt“ kommt nicht ohne den Guten, den Bösen und den ikonischen Showdown aus. Doch er liegt am Anfang des Films, ein zweiter am Ende, das Tumbleweed und der Zigarillo fehlen beide Male. Und auch der Plot des von Mortensen als Autor, Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller in Personalunion auf die Leinwand gestemmten Films läuft ein bisschen anders, als das Vorurteil nahe legt.

Mortensens Protagonist, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Dänemark in die USA emigrierte Abenteurer Holger Olsen, wäre allerdings nur eine halb so interessante Figur ohne dessen weiblichen, so gar nicht ins Westernklischee passenden Gegenpart. Die Franco-Kanadierin Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps) hat gerade ihren schnöseligen Verlobten zum Teufel geschickt, als sie Olsen am Hafen von San Francisco aufgabelt. Aus dem Zufallsflirt mit anschließendem One-Night-Stand wird eine Beziehung.

Vivienne folgt Olsen aus der schon damals dicht besiedelten Großstadt in die karge Steppenlandschaft von Nevada, die geografisch zur Großregion des mythisch aufgeladenen „Wilden Westens“ gehört. Doch Mortensen interessiert sich nicht für die mit dem Mythos verbundene, olle „Cowboy-und-Indianer-Show“, und den in der Popkultur oft verherrlichten Pioniergeist der Siedler interpretiert er als Pragmatismus.

Der Dorf-Sadist hat es auf Vivienne abgesehen

Angesichts der verwahrlosten Hütte, die Olsen zu ihrem neuen Zuhause erklärt, krempelt Vivienne nach kurzem Seufzen die Ärmel hoch, um die Dielen zu schrubben und geblümte Volants in die Fenster zu hängen. Den darauf folgenden Alltag des Paars schildert Mortensen als öde Idylle mit harter Landarbeit und kleinen Freuden. Vivienne ist eine erstaunlich moderne Frau, die nach finanzieller Unabhängigkeit strebt und deshalb im Saloon an der Theke anheuert. Den Job braucht sie auch, weil Olsen gegen die Konföderierten in den Krieg ziehen will und die Beziehung deshalb auf unbestimmte Zeit auf Eis legt. Dass Olsen Vivienne in seiner Abwesenheit aber auch den Launen und Begehrlichkeiten des Dorf-Sadisten Weston Jeffries (Solly McLeod) aussetzt und sie sich allein in einem frauenfeindlichen Umfeld beweisen muss, sieht Olsen nicht.

Der Fokus des Films liegt also nicht auf einem männlichen Helden, der an der Front Land, Recht und Freiheit verteidigt, sondern auf einer Frau, die den männergemachten Gesetzen des Wilden Westens und damit auch dem Genre trotzt. Ein feministischer Western ist „The Dead don’t hurt“ dennoch nicht, eher ein existenzieller, humanistischer, der nah an tatsächlichen historischen Verhältnissen soziales Elend während der Pionierphase der USA beschreibt.

Brutale Lynchjustiz und Rassismus

In schlaglichtartigen Rückblenden erhellt Mortensen zu Beginn des Films die Vorgeschichte zu Viviennes Migration; schildert deren vom gewaltsamen Tod des Vaters überschattete Kindheit, erzählt, wie sich das Mädchen in die Geschichte Jeanne d’Arcs flüchtet und von einem Ritter in silberner Rüstung träumt, der niemals kommen wird. Er beschreibt die Armut und Ödnis des Siedlerlebens, skizziert die brutale Lynchjustiz jener Tage, die auch Olsen anwenden wird, und die mindestens so grausame offizielle Rechtspraxis, wenn ein Unschuldiger von Geschworenen zum Tod durch Erhängen verurteilt wird und im qualvoll langsamen Sterbeprozess am Baum zappelt.

Mortensen erzählt sogar vom Rassismus des 19. Jahrhunderts, von sexueller Gewalt und Korruption. All das gehört sehr wohl zum Western, aber der Tenor der Erzählung hängt von der Perspektive ab, und die ist bei Mortensen trotz mancher bekannter Muster und Motive alles andere als romantisch oder heroisch, sondern vor allem traurig. Eine gewisse Schönheit ringt der Kameramann Marcel Zyskind der Landschaft ab; man versteht, warum Olsen seiner Vivienne einen blühenden Garten schaffen will, ausgerechnet da, wo sonst nur dürre Gräser aus der staubigen Erde wachsen. Sein Paradies auf Erden findet das Paar jedoch nicht, nur so etwas wie einen desillusionierten, tragischen Frieden.

The Dead don’t hurt. Großbritannien, Mexiko, Dänemark 2024. Regie: Viggo Mortensen. Mit Vicky Krieps, Viggo Mortensen, Solly McLeod. 129 Minuten. Ab 12 Jahren.

Vielfalt des Western-Genres

Moderner WesternDas in seinen Ursprüngen simpel gestrickte Western-Genre ist vielfältiger als sein Ruf, neuere starke Beispiele sind etwa Jacques Audiards tragikomischer Western „The Sisters Brothers“ (2018) oder der düstere Spät-Western „True Grit“ (2010) der Cohen-Brüder.

Anti-WesternDabei gab es schon früh Bestrebungen, im Anti-Western das konventionelle Genre aufzubrechen und zu bereichern. Fred Zinnemanns pessimistisches Drama „12 Uhr mittags“ (1952) setzte sich mit Themen wie Feigheit, Bigotterie und der Brüchigkeit von Werten auseinander, während Sergio Corbucci im grell brutalen Spaghetti-Western „Django“ (1966) Rassismus und sexualisierte Gewalt thematisierte.

Neue WelleMit Kevin Costners („Der mit dem Wolf tanzt“, 1990) „Horizon“ gibt es schon am 22. August Nachschub für Westernfans.

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Erstellt:
7. August 2024, 15:26 Uhr
Aktualisiert:
7. August 2024, 15:29 Uhr

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