Internetphänomen Selbstverletzungen
Warum Ritzen im Netz zum Wettbewerb ausartet
Narben, die eine Geschichte erzählen: Manche Menschen schneiden sich absichtlich in die Haut oder verbrühen sich. Seit Corona sehen Experten einen Anstieg und vermuten den Grund dafür im Internet.
Von Markus Brauer/Irena Güttel (dpa)
Selbstverletzendes Verhalten (englisch: self-injury) ist bei Kindern und Jugendlichen ein weit verbreitetes Problem. Marcel Romanos, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), bezeichnet Ritzen als ein außerordentlich häufiges Phänomen im frühen Jugendalter, das insbesondere bei jungen Mädchen „epidemisch“ sei.
18 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben sich schon selbst verletzt
Bewusst und freiwillig den eigenen Körper schädigen, ist vor allem unter Jugendlichen weit verbreitet. Aktuelle Zahlen liefert eine im August im Fachjournal „European Child & Adolescent Psychiatry“ veröffentlichte Untersuchung unter rund 9500 Schülern in Deutschland. Darin gaben fast 18 Prozent an, bereits Erfahrungen mit Selbstverletzungen gemacht zu haben.
Warum sich Borderline-Patienten verletzen
Ritzen, Schneiden, Sich-verbrennen, Schlagen gegen Gegenstände oder den eigenen Körper: Teilweise beginnen die Betroffenen sich zunächst oberflächliche Schnittverletzungen beizubringen und probieren es aus, weil sie es bei Gleichaltrigen oder in sozialen Medien gesehen haben.
Melanie Weymers Arme sind bedeckt von Narben. Sie alle zeugen von tiefen Schnitten mit Rasierklingen, die sie sich selbst zugefügt hat. Die 31-Jährige aus Nürnberg hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung: Eine psychische Erkrankung, bei der Betroffene unter starken Gefühls- und Stimmungsschwankungen leiden. Viele „Borderliner“ verletzen sich selbst, um die innere Anspannung zu verringern.
Deutlicher Anstieg seit Corona-Pandemie
Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) nennen Fachleute es, wenn sich Menschen absichtlich verletzen. Manche tun es einmal, manche immer wieder und immer vehementer. Nicht immer steht eine Borderline-Störung dahinter.
„Selbstverletzung ist primär Ausdruck von starkem emotionalem Leid oder Druck. Und das kann natürlich im Rahmen fast jeder psychischen Erkrankung entstehen“ – etwa bei Depressionen oder Schizophrenie, erklärt Michael Kaess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern.
Seit der Corona-Pandemie sei eine Zunahme zu beobachten, hat Kaess festgestellt. „Ein möglicher Treiber sind die sozialen Netzwerke.“ Wer öfter Inhalte zu Themen wie Traurigkeit oder Krise anklicke, bekomme immer mehr davon angeboten und gelange dann auch zu Inhalten, die sich mit Selbstverletzungen und Suizid beschäftigten.
Im Internet wird Selbstverletzung zu einer Art Wettbewerb
Dass man im Internet schnell in einen Strudel negativer Emotionen geraten kann, hat auch Melanie Weymer erlebt. Zum Teil brüsteten sich Leute damit, dass sie wieder im Krankenhaus seien oder wie tief die Verletzung sei – und bekämen dafür Aufmerksamkeit. „Da entsteht eine Art Wettbewerb – so wie bei einer Challenge.“
Der Psychotherapeut Sascha Zuleger vom Klinikum Nürnberg hat auch von anderen Patienten gehört, dass diese ähnliche Erfahrungen im Internet gemacht haben. Manche könnte das zum Nachahmen animieren, befürchtet er. „Die Idee, sich selbst zu verletzen, ist nicht mehr so weit hergeholt heutzutage wie vielleicht noch vor 20 Jahren. Zu dem Thema gibt es Blogs, Homepages und Foren, darüber wird geschrieben, gesprochen, gesungen und es werden Filme gemacht.“
Auf der anderen Seite kann das Internet aus Zulegers Sicht auch einen positiven Effekt haben, weil Betroffene dort Hilfe finden könnten und merkten, dass sie nicht alleine seien. „Das denken tatsächlich einige. Und wenn die dann auf unsere Station kommen, sind sie überrascht, wie viele dieses Problem haben.“
Aus Scham wird keine Hilfe gesucht
Dass viele Betroffene aus Scham oder anderen Gründen keine Hilfe suchen, zeigt auch die Untersuchung unter den deutschen Schülern. Von denen mit psychischen Problemen hätten gerade mal 25 Prozent professionelle Hilfe in Anspruch genommen, erläutert Kaess. Fachleute wie er sehen das mit Sorge.
„Wir wissen, dass selbstverletzende Jugendliche häufig auch Suizidgedanken haben und dann im Verlauf irgendwann auch ein erhöhtes Risiko haben, einen Suizidversuch zu begehen.“
Narben zu akzeptieren, gehört zum Heilungsprozess
Forscher der Universitäten und Universitätsklinika in Heidelberg, Karlsruhe, Landau/Koblenz, Mannheim, Neuruppin und Ulm haben deshalb ein Online-Programm entwickelt, das Jugendlichen und jungen Erwachsenen schnelle und flexible Hilfe bieten soll.
700 Betroffene haben sich daran beteiligt. Ob das Programm ihnen helfen konnte, müssen die Forscher nun auswerten. Die Daten dazu könnten Anfang 2025 vorliegen, erläutert Kaess, der das Projekt koordiniert.
Melanie Weymer hat seit fast einem Jahr nicht mehr ihre Haut mit Rasierklingen verletzt oder sich Verbrennungen an den Händen zugefügt. Sie hat gelernt, besser mit ihren Gefühlen und der Anspannung umzugehen. Sie spielt mit ihren Katzen, macht Yoga und liest viel zur Ablenkung. „Ganz weg wird es nie sein.“
Die Narben an ihren Armen will sie deshalb nicht mehr verstecken. „Diese gehören zu mir.“ Das zu akzeptieren, sei auch Teil des Heilungsprozesses.