Was zählt, sind die Menschenleben
Historiker Matthias Hofmann ordnet den Ukrainekrieg jenseits medial ausgetretener Pfade in geschichtliche und politische Zusammenhänge ein. Sein Vortrag bei der Volkshochschule ist auch ein Plädoyer für einen kühlen Blick auf die Lage und unheroische humanitäre Ziele.
Von Christine Schick
Murrhardt. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Wladimir Putin in die Ukraine einmarschiert“, sagt Matthias Hofmann. Auch für viele Experten sei dies völlig überraschend gewesen. „Der Einmarsch ist ohne ersichtlichen Grund erfolgt und durch nichts zu rechtfertigen.“ Der Historiker und Orientalist lässt keinen Zweifel daran, dass ihn der Krieg und die „One-Man-Show“ des russischen Präsidenten bestürzen.
Das hält ihn aber nicht davon ab, sich die teils einseitige, teils unpräzise Berichterstattung sowie die (Vor-)Geschichte anzuschauen. Es geht ihm um Genauigkeit und ein möglichst komplettes Bild. Beispielsweise wenn die Rede vom russischen Übungsmanöver im Herbst 2021 ist, das durchaus näher als bisher in den Westen verlegt wurde, aber das Gros der Truppen – anders als westliche Medienberichte vermuten lassen – noch rund 350 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt war, so Hofmann. Oder das für 2020 geplante Nato-Übungsmanöver an der Ostgrenze, das wegen der Pandemie abgebrochen wurde, dann im Frühjahr 2021 erfolgte und nach seiner Einschätzung das größte seit Ende des Kalten Kriegs war und bei dem auch die Ukraine teilnahm.
Matthias Hofmann lenkt den Blick auf die Geschichte und skizziert die Entwicklung seit dem Mauerfall. In den Gesprächen mit Eduard Schewardnadse habe Hans-Dietrich Genscher noch zugesagt, dass es keine Nato-Osterweiterung geben und von keinem Sieg des Westens über den Osten die Rede sein dürfe. Es kam bekanntlich anders und für den 52-Jährigen ist nachvollziehbar, dass Russland dies als Gefährdung empfunden hat. „Ich hätte es besser gefunden, wenn mit Ende des Warschauer Pakts auch die Nato aufgelöst und ein ganz neues militärisches Bündnis gegründet worden wäre“, sagt er. Putins Vision, einen eurasischen Wirtschaftsraum zu schaffen, habe in Europa keinen Widerhall gefunden.
In seinem Präsidentschaftswahlkampf 2012 habe Putin klargemacht, dass er Russland wieder zu seiner einstigen Geltung und Größe verhelfen und eine fortschreitende Nato-Osterweiterung nicht mehr hinnehmen wolle.
2014 kam es in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu Massenprotesten gegen die prorussische Politik von Präsident Wiktor Janukowitsch, parallel annektierte Putin die Halbinsel Krim. „Die Schwierigkeit ist, dass das Völkerrecht hier nicht eindeutig ist“, sagt Hofmann. Der Grundsatz, die territoriale Integrität nicht zu zerstören, stehe gegen den eines Selbstbestimmungsrechts der Völker. Und er zählt verschiedene Beispiele auf, bei denen mal im Sinne des einen, mal des anderen Grundsatzes entschieden worden ist. „Die UN hat sich damit keinen Gefallen getan.“
Mit der Ukrainekrise verschlechtert sich das Verhältnis zwischen Russland und den USA sowie den europäischen Partnern. Nach der Anerkennung der Separatistengebiete Luhansk und Donezk in der Ostukraine, die seit 2014 von militärischen Auseinandersetzungen geprägt sind, als Staaten begann am 24. Februar der Einmarsch russischer Truppen. Es gibt Reaktionen auf unterschiedlichen Ebenen: In puncto Lieferung von vergleichsweise modernen Waffensystemen an die Ukraine gibt Hofmann zu bedenken, dass ihr Einsatz eine Ausbildung voraussetzt, ähnlich problematisch bewertet er die Aufstellung von Heimatschutzverbänden zur Verteidigung. „Dass die EU so geschlossen reagiert, hat Putin vermutlich überrascht“, sagt Hofmann auch mit Blick auf die Sanktionen. Als schmerzhafteste Maßnahme sieht er den (Teil-)Ausschluss Russlands aus dem Swift-Verfahren.
Was einen EU-Beitritt der Ukraine anbelangt, merkt er aber auch an, dass das Land mit Korruption kämpfe und schlichtweg pleite sei. Die Europäische Union müsse sich überlegen, wie sie sich beziehungsweise die nicht einzahlenden Mitglieder finanzieren könne. Und für die Nato gelte: „Sie und die Partner dürfen sich keinesfalls in den Konflikt mit hineinziehen oder provozieren lassen.“ Beim Ausblick auf die möglichen Szenarien macht er später unmissverständlich klar, dass dies einen Weltkrieg bedeuten würde. Im Moment stellt sich die EU darauf ein, unzählige Flüchtlinge aufzunehmen, und Hofmann würdigt die breite Bereitschaft dazu. „Ich hoffe aber auch, dass das so bleibt und nicht irgendwann abebbt.“ Gleichsam ist klar, dass die Sanktionen Russland gegenüber Einschnitte und harte Konsequenzen auch in Deutschland bedeuten – vor allem bei der Energie- und Lebensmittelversorgung. „Energiepolitik muss man auf Jahrzehnte hin planen“, merkt Hofmann an, und insofern stellen sich für ihn nun ganz konkrete Fragen zur Versorgungssicherheit. „Wir sind es nicht gewöhnt, ohne Strom auszukommen.“
Das dürfte nicht wenigen Ukrainerinnen und Ukrainern als kleineres Problem erscheinen, auch angesichts des düsteren Ausblicks, den Matthias Hofmann noch gibt. Das erste Szenario wirkt für Außenstehende noch am gnädigsten: Die Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine führen insofern zum Erfolg, dass sich das angegriffene Land ergibt und zu einem russischen Vasallenstaat wird und damit viele Menschen überleben. Sollten sie scheitern, geht die Zerstörung weiter, unzählige Zivilisten finden den Tod, bis die Ukraine trotzdem zu einem von Russland gesteuerten Land wird. Eine dritte Variante – neben besagtem Weltkriegsszenario – ist das vorläufige Scheitern Russlands, der Rückzug nach Osten und der Versuch, die Hauptstadt auf andere Weise zu zerstören.
In der Frage- und Diskussionsrunde werden verschiedene Themen angeschnitten und vertieft. Hofmann hält ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr angesichts künftiger Probleme vorsichtig ausgedrückt für überdenkenswert. „Wir werden das Geld für andere Dinge brauchen. Die Menschen müssen zur Arbeit kommen“, meint er mit Blick auf die stark steigenden Benzin- und -Energiepreise. In der Ukraine geht es ums nackte Überleben: „Führende Politiker müssen sich jetzt überlegen, wie viel Tote sie wollen. Das ist eine schwierige Situation“, sagt Hofmann. Dazu gehöre letztlich auch die Entscheidung, ob ukrainische Männer ehrenvoll kämpfen müssten und lieber tot sein wollten, als unter russischer Herrschaft zu leben. „Ich bin niemand, der Putin befürwortet, aber es geht mir um die Menschen.“ Zudem komme die Frage, wie lange es dauern wird, die Ukraine wiederaufzubauen. Was das bedeute, könne man sich, wenn auch nur ansatzweise, vorstellen, wenn man ins Ahrtal blicke.

© Jörg Fiedler
„Führende Politiker müssen sich jetzt überlegen, wie viel Tote sie wollen. Das ist eine schwierige Situation.“
Der Dozent Matthias Hofmann hat Geschichte und Orientalistik sowie Medienwissenschaften in Tübingen studiert. Sein besonderes Interesse am Verhältnis zwischen Okzident und Orient liegt auch in seiner eigenen Biografie begründet: Er ist im Iran geboren, da sein Vater damals für die Hoechst AG dort tätig war. Hofmann war 2003 bis 2012 interkultureller Einsatzberater der Bundeswehr und analysiert für die Einsatzkräfte aktuelle politisch-soziale Entwicklungen im Mittleren Osten und in Nordafrika, kurz: MENA-Region. Seit vielen Jahren ist der heute 52-Jährige zudem in der Erwachsenenbildung tätig.
Der Vortrag Hofmann war bei der Volkshochschule Murrhardt zu Gast. Unter dem Titel „aktuelle Politik“ hieß es für ihn, zu momentanen Entwicklungen und Ereignissen Stellung zu nehmen – und somit zum Thema Ukrainekrieg.