Christfest in Jerusalem
Weihnachten ohne Gäste
In der Jerusalemer Altstadt findet sich zwar ein muslimischer Bäcker, der köstliche Christstollen verkauft. Aber die Touristen bleiben fern.
Von Mareike Enghusen
Im Heiligen Land einen guten Christstollen zu finden, ist erstaunlich schwer. Es gibt Whatsapp-Gruppen deutschsprachiger Einwanderer und Expats in Israel, in denen das Thema mit Leidenschaft verhandelt wird. Manche empfehlen Supermärkte russischer Migranten, müssen sich allerdings sich zurechtweisen zu lassen: Die Stollen dort seien mit Marzipan gebacken statt mit Butter, schreiben kritische Kommentatoren, und damit bestenfalls ein kläglicher Abklatsch richtiger Christstollen. Eine Frau gibt schließlich den entscheidenden Tipp: die Patisserie Abu Seir in der Jerusalemer Altstadt, nahe dem Neuen Tor.
Das Neue Tor am westlichen Zipfel der Altstadt, einer der acht Zugänge zu dem historischen Quadratkilometer, führt ins christliche Viertel. An einem wolkenverhangenen Dezembernachmittag herrscht hier wenig Betrieb. Das liegt nicht nur an dem Nieselregen, der hin und wieder auf das helle Kopfsteinpflaster fällt. Wie schon im vergangenen Jahr haben die Kriege und Krisen der Region die Touristen verschreckt. Bei den wenigen Menschen, die hier durch die engen Gassen gehen, handelt es sich offenkundig um Einheimische: Sie schlendern nicht, schauen nicht neugierig nach links und rechts, bleiben nicht orientierungslos an Kreuzungen stehen, sondern streben einem unbekannten Ziel zu, den Blick stur nach vorn gerichtet. Ein Mann spielt beim Gehen mit einer muslimischen Gebetskette, ein Paar unterhält sich auf Hebräisch, zwei dunkelhaarige Jungen laufen einem Ball hinterher. Die meiste Zeit aber ist es still. Eine Straßenkatze spaziert durch eine Gasse, als gehöre sie ihr. Niemand verscheucht sie. Die meisten Geschäfte im christlichen Viertel sind geschlossen, die Fronten verrammelt mit schweren Metalltoren.
Butter vor, während und nach dem Backen
Die Patisserie Abu Seir aber hat geöffnet. Aus dem Schaufenster fällt warmes Licht auf das feuchte Pflaster. Drinnen, in der kleinen Verkaufsstube, duftet es nach frisch gebrühten Kaffee. Hier, endlich, Hinweise auf das bevorstehende Weihnachtsfest: Tannenzweige, Glaskugeln, eine rote Nikolausmütze, die von einem Wandschrank hängt. In Glasvitrinen sind Gebäckstücke mit Glasierungen in fast allen Farben des Regenbogens aufgereiht. Und daneben, auf der Verkaufstheke, stehen sie auf einem Tablett, einzeln in Folie verpackt, üppig mit Puderzucker bestreut: die berühmten Christstollen. Mit Butter, nicht mit Marzipan.
Das versichert der Gründer und Patissier persönlich. Für ein kurzes Gespräch tritt Ibrahim Abu Seir (59) aus der angeschlossenen Backstube heraus. „Ich gebe vor dem Backen Butter dazu, während des Backens und dann noch mal nach dem Backen“, erklärt er und lacht. „Andere nehmen Marzipan, aber ich finde, das macht den Stollen bitter.“
Das Echo in den sozialen Netzwerken klingt, als sei die Patisserie in der Altstadt eine Institution. Dabei gibt es sie noch nicht lange: Abu Seir gründete sie im Juni 2020, wenige Monate nach Ausbruch der Covid-Pandemie. Es waren denkbar schwierige Startbedingungen, doch das Geschäft überlebte. „Ich glaube, dass Gott jedem hilft, der es verdient”, sagt Abu Seir. „Und ich glaube, dass meine Familie es verdient.”
Er führt die Patisserie zusammen mit seiner Tochter, dem jüngsten seiner drei Kinder. Das Ausbleiben der Touristen treffe sein Geschäft hart, sagt er, so wie alle Geschäfte der Altstadt. „Es hilft, dass wir hier die Chefs sind: So können wir ein bisschen mit den Preisen spielen, die Dinge etwas günstiger anbieten. Wir schaffen es, den Kopf über Wasser zu halten. Aber nur so gerade eben.“
„Wir sorgen uns, was morgen passiert“
Vor ein paar Jahren, sagt er, sei er nach Norwegen gereist und habe den Menschen dort gesagt: „Wisst ihr, was der Unterschied zwischen Norwegern und Palästinensern ist? Ihr fragt euch, was ihr morgen machen werdet, denn bei euch ist es ruhig. Wir sorgen uns darum, was morgen passieren wird.”
Wie die anderen Unternehmer und Händler im christlichen Viertel hat er darauf verzichtet, einen Weihnachtsbaum vor dem Geschäft aufzustellen. Damit folgt er dem Beispiel der Stadtverwaltung Bethlehems, die, ebenso wie im Vorjahr, alle öffentlichen Festlichkeiten abgesagt hat, darunter auch das ansonsten traditionelle Aufstellen eines riesigen Weihnachtsbaumes auf dem Platz vor der Geburtskirche. Solange im Gazastreifen Krieg herrscht, gelten öffentliche Feierlichkeiten als unangemessen.
Keine Feierstimmung
„Tausende Menschen sind gestorben, viele Kinder”, sagt Ibrahim Abu Seir, „über Hunderttausende wurden verletzt. In früheren Jahren hatten wir hier einen sehr schönen Baum. Aber dieses Jahr geht das nicht.“
Auf der Gasse, die von der Patisserie aus tiefer in die Altstadt hinein führt, stehen vereinzelt aufblasbare Weihnachtsmänner vor kleinen Supermärkten oder Souvenirgeschäften. Doch Feierstimmung verbreiten sie nicht. In keinem der wenigen offenen Geschäfte sind Kunden zu sehen. Ein Händler sitzt auf einem Schemel vor seinem Laden, in dem Holzkreuze und Marienfiguren vergeblich auf Käufer warten, und schaut sich Videos auf seinem Telefon an.
„Es hat keinen Sinn, auf Touristen zu warten“
„Ich habe seit heute Morgen keinen einzigen Kunden gehabt“, klagt der Besitzer eines Schmuckgeschäftes, dessen Name Chamis lautet, zu Deutsch „Fünf“: Er ist das fünfte Kind seiner Eltern. Er überlege, sagt er, den Schmuckverkauf aufzugeben und stattdessen Waren für die lokale palästinensische Bevölkerung anzubieten. „Es hat keinen Sinn, auf die Touristen zu warten.“
Einige Schritte weiter führt eine offene Glastür in den Verkaufsraum der „Fair Trade Women Cooperative“, einer palästinensischen Nichtregierungsorganisation. Angeboten werden hier Gewänder, Tischdecken und Kissenbezüge, verziert mit traditionellen palästinensischen Stickereien in Rot und Schwarz, angefertigt von Frauen im Westjordanland, die sich damit ein kleines Einkommen verdienen. Auch sie habe seit dem Morgen noch keinen einzigen Kunden gehabt, berichtet frustriert die Verkäuferin, die ihren Namen nicht nennen möchte. Sie erklärt ihre Zurückhaltung so: Ausländische Reporter hätten sie einmal gegen ihren Willen mit politischen Aussagen zitiert. „Wir haben im Moment kaum Aufträge für die Frauen“, seufzt sie. „Die Arbeit, die wir früher einer einzigen Frau gegeben hätten, müssen wir jetzt unter sieben oder acht Frauen aufteilen.“
Symbole von Christen, Muslimen und Juden im Laden
Zurück in der Patisserie: Bei Abu Seir haben sich inzwischen mehrere Kunden eingefunden. An niedrigen Tischen sitzen sie draußen vor dem Geschäft und wärmen sich die Hände an ihren Kaffeetassen: ein Mann und eine Frau, die sich leise auf Hebräisch unterhalten; zwei junge Mädchen, die auf Arabisch miteinander plaudern.
Drinnen, an der Wand hinter der Theke, hängt ein Kreuz aus Holz mit fein geschnitzten Verzierungen. Es läge nahe, zu vermuten, es handele sich um ein von Christen geführtes Geschäft. Doch der Bäcker Ibrahim Abu Seir ist Muslim. Weiter rechts an der Wand, eher unauffällig neben einem Schrank platziert, hängt das gerahmte Bild einer verschnörkelten Koransure.
„Unser Problem sind die, die sich für Helfer Gottes halten“
„Und da“, sagt Abu Seir und zeigt auf eine stilisierte Hand aus verschnörkelten Metallstreben, „habe ich die jüdische Hamsa.“ Die Hamsa, die vor bösen Blicken schützen soll, ist zwar kein rein jüdisches Symbol, aber in der Tat beliebt in orientalischen jüdischen Gemeinden. Die Botschaft seiner Wanddekoration ist offensichtlich: Hier, in dieser kleinen, nach Kaffee und Christstollen duftenden Oase, soll auch in Zeiten der Krise jeder willkommen sein.
„Ich glaube, Religion ist eine Sache zwischen Mensch und Gott“, sagt Abu Seir. „Es ist nicht wichtig, welche Religion du hast – glaubst du an Gott, ist das genug. Unser Problem sind diejenigen, die sich selbst zu den Helfern Gottes erklären und über andere Menschen entscheiden wollen.“