Vertrauensfrage im Bundestag

Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz sich auf eine Kiste stellt

Der Kanzler hat dem Bundestag die Vertrauensfrage gestellt. Jetzt ist der Weg für Neuwahlen frei und der Wahlkampf geht in die nächste Runde. Friedrich Merz machte gleich mal deutlich, was er vom Kanzler hält.

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht zur Vertrauensfrage im Bundestag.

© dpa/Christoph Soeder

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht zur Vertrauensfrage im Bundestag.

Von Tobias Peter

Es ist eine historische Stunde im Deutschen Bundestag. Olaf Scholz braucht nur wenige Sätze, um vom Kanzler zum Wahlkämpfer zu werden. Es sei das sechste Mal in der Geschichte, dass ein Kanzler im Parlament die Vertrauensfrage stelle. Zwei Mal hätten sich seine Vorgänger dadurch den Rückhalt ihrer Regierungskoalitionen sichern sollen. „In den anderen drei Fällen nutzten Willy Brandt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder den Artikel 68, um Neuwahlen zu ermöglichen“, sagt der Regierungschef. „Die Bundestagswahl vorzuziehen, das ist auch mein Ziel.“

Es ist ein kluger Trick von Scholz, sich in eine Reihe mit Brandt, Kohl und Schröder zu stellen. Denn es gibt einen Unterschied. Scholz ist der erste Kanzler, der die Vertrauensfrage stellt, weil seine Koalition zerbrochen ist. Brandt, Kohl und Schröder hatten eigentlich noch die Mehrheit im Parlament. Scholz hat sie nicht mehr. Er ist schon seit sechs Wochen Kanzler einer Minderheitsregierung.

Bei der Wahl könnten die Bürgerinnen und Bürger den politischen Kurs des Landes bestimmen, sagt der Kanzler jetzt im Bundestag. „Die Vertrauensfrage richte ich deshalb heute an die Wählerinnen und Wähler“, betont er. Es ist der Moment, in dem der Kanzler zwar hinter dem Rednerpult im Bundestag steht. Aber es ist so, als sei er geistig gerade auf dem Marktplatz auf eine Kiste gestiegen – so wie jemand, der dort dafür werben will, dass es bei ihm die schönsten Angebote gibt.

Mit Ehefrau Britta Ernst in der Fraktion

Auch wenn es kein staatstragend zurückgenommener Auftritt des Kanzlers ist, ist es doch ein besonderer. Das lässt sich beobachten, als Scholz am Montagmittag in die Sondersitzung der SPD-Fraktion kommt, die vor der Plenarsitzung stattfindet. Scholz betritt – unter dem Applaus seiner Fraktion – den Saal. An seiner Seite ist seine Frau Britta Ernst, die bis zum Jahr 2023 in Brandenburg Bildungsministerin war. Scholz und Ernst setzen sich gemeinsam nach vorn in der Fraktion, wo für die Ehefrau an diesem Tag eigens ein Platz zwischen Kanzler und SPD-Chef Lars Klingbeil eingerichtet worden ist – Namensschild inklusive.

Die Frage an die Menschen im Land, so Scholz, laute: „Trauen wir uns zu, als starkes Land kraftvoll in unsere Zukunft zu investieren? Haben wir Vertrauen in uns und unser Land? Oder setzen wir unsere Zukunft aufs Spiel?“ Er fügt noch hinzu: „Riskieren wir unseren Zusammenhalt und unseren Wohlstand – indem wir längst überfällige Investitionen verschleppen?“

Es ist der Sound, der von Scholz bereits in den vergangenen Wochen zu hören war. Sein Versprechen ist, mit ihm würden Ausgaben für Verteidigung nicht gegen solche für die Rente ausgespielt. Und: Damit Deutschland ausreichend in seine Zukunft investieren und dauerhaft wirtschaftliches Wachstum sichern könne, brauche es eine maßvolle Reform der Schuldenbremse.

Scholz wird im Lauf seiner Rede mehrere zentrale Versprechen aufgreifen, die sich auch in seinen Wahlkampfreden wiederfinden werden: stabile Renten, eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Nahrungsmittel und ein Mindestlohn von 15 Euro. Scholz greift das zentrale Wort seiner Kampagne aus dem Jahr 2021 auf: Es gehe um „Respekt“, auch für diejenigen, die wenig Geld haben.

Zeit der Abrechnung

Doch vorher hat Scholz noch eine Abrechnung eingeplant. Es ist dieselbe, die er auch schon gemacht hat, als die Ampelregierung auseinandergebrochen ist. Sie richtet sich gegen den von ihm entlassenen Finanzminister FDP-Chef Christian Lindner.

In den vergangenen Wochen haben Recherchen der „Zeit“ nahegelegt, dass die FDP über mehrere Wochen am Bruch der Regierung gearbeitet hat, während sie der Öffentlichkeit gegenüber ihren Lösungswillen beteuerter. Klar ist, dass die Aussage des mittlerweile zurückgetretenen FDP-Generalsekretärs Bijan Djir-Sarai, es habe keine Planungen unter dem Titel „D-Day“ gegeben, unwahr war.

„Politik ist kein Spiel, liebe Kolleginnen und Kollegen“, sagt Scholz nun im Bundestag. „In eine Regierung einzutreten, dafür braucht es die nötige sittliche Reife.“ Der Kanzler spricht von „wochenlanger Sabotage“ der Regierung durch die FDP. Es gibt Applaus in der SPD-Fraktion, aber auch ein Raunen im Saal. FDP-Fraktionschef Christian Dürr schüttelt den Kopf. Lindner sitzt regungslos neben Dürr. Der entlassene Finanzminister wird später – von harten Handkantenschlägen durch die Luft untermalt – die Politik von Scholz als wirtschaftlich rückwärtsgewandt brandmarken. „Der Prinz Karneval kann an Rosenmontag Kamelle verteilen, um populär zu werden“, wird Lindner ausrufen. Aber die Bundesrepublik Deutschland dürfe so nicht regiert werden.

Als Verteidiger von Lindner tritt Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz auf, der im Bundestag unmittelbar auf Scholz antwortet. Merz nennt die Attacke des Kanzlers gegen Lindner „nicht nur respektlos“, sondern auch eine „blanke Unverschämtheit.“ Hier zeigen sich zwei Dinge: Die Union wird zwar – auch gegen die FDP – bei der Wahl um jede Stimme kämpfen. Doch angesichts der Aussicht auf eine erneute große Koalition, auf Schwarz-Grün oder noch kompliziertere Mehrheiten wäre ihr ein schwarz-gelbes Bündnis sympathisch.

Der zweite Punkt: Das Verhältnis von Scholz und Oppositionsführer Merz ist kaputt. Sie können sich nicht leiden, sie trauen sich gegenseitig nicht über den Weg. Auch Merz will jetzt austeilen. Er hält Scholz unter anderem vor, es sei „zum Fremdschämen“, wie der sich auf europäischer Ebene verhalte.

Einer macht es anders

„Wir werden uns alle ein bisschen mehr anstrengen müssen. Wir werden alle mehr arbeiten müssen“, sagt Merz zur Wirtschaftspolitik – ohne zu verraten, was er den Menschen genau abverlangen wird. Das Wahlprogramm der Union enthält eher Versprechungen von Steuersenkungen. „Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Chance gehabt. Sie haben diese Chance nicht genutzt“, sagt Merz. „Sie, Herr Scholz, haben Vertrauen nicht verdient.“

Stehen alle an diesem Tag, wenn man so will, schon auf der Marktplatzkiste für den Wahlkampf? Eine Ausnahme macht, wenigstens für einige Minuten, Robert Habeck (Grüne). Der Vize-Kanzler spricht ehrlich davon, wie sich SPD, Grüne und FDP in der Ampelkoalition gegenseitig genervt hätten. Wie die Ampel mit ihrem ständigen Streit selbst schuld an ihrem schlechten Ruf gewesen sei. Und wie er es doch als Niederlage sehe, dass diese Regierung in einer Zeit, in der es in Europa ohnehin schon an Stabilität fehle, zerbrochen sei.

Das ist die Selbstkritik, die Scholz vermissen lässt. An Merz und die Union gerichtet, sagt Habeck, sie hätten sich „in Oppositionsrhetorik eingenistet“, müssten aber sagen, wie sie Probleme lösen wollen. Es sind nachdenkliche Sätze. Es sind aber auch nur wenige Minuten in der Debatte. Am Ende verfehlt Olaf Scholz mit 207 Ja-Stimmen, 394-Nein-Stimmen und 116 Enthaltungen die Mehrheit in der Vertrauensfrage. Damit bekommen fast alle das, von dem sie gesagt haben, dass sie es wollen: Neuwahlen.

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Erstellt:
16. Dezember 2024, 18:14 Uhr
Aktualisiert:
16. Dezember 2024, 18:32 Uhr

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