Ukraine-Krieg
Wenn der Krieg ein Leben verhindert
Yuriy würde gerne eine Familie gründen – stattdessen verteidigt er seit acht Jahren die Ukraine gegen die russischen Angreifer.
Von Till Mayer
Der Krieg spielt sich auf dem großen Flachbildschirm in Vogelperspektive ab. Drohnen fliegen über Taschassiw Jar. Auf dem Monitor sind gespenstische Bilder zu sehen, die sie übermitteln. Zusammengebombte Wohnblocks ziehen sich wie Gerippe über den Boden. Krater liegt neben Krater. In einem einstöckigen Bauernhäuschen, keine zehn Kilometer entfernt, laufen die Daten der Aufklärungsdrohnen zusammen. Hier, nahe der Front, herrscht nur Trostlosigkeit. Verlassene Dörfer, Ruinen, ausgebrannte Dachstühle, neben rissigem Asphalt immer wieder Einschläge von Artilleriegeschossen. Es ist die Lebenswelt von Panzerhaubitzen-Kommandanten Yuriy.
Bald 1000 Tage großangelegte Invasion haben in Tschassiw Jar und seinem Umfeld eine Schneise völliger Zerstörung hinterlassen. Yuriy gießt sich gerade einen Tee in seiner Stellung nach. Sein Krieg dauert schon länger an. Er dient seit 2016 in der ukrainischen Armee. Er kämpft in einem Krieg, der 2014 im Donbas mit dem Einmarsch russischer Truppen beginnt. Deren Einsatz für die Errichtung und Erhalt moskaukontrollierter Pseudo-Separatistenrepubliken nötig ist. Im gleichen Jahr annektiert Russland die Krim.
Seit acht Jahren führt Yuriy ein Leben in Erdbunkern, Kasernen, Schützengräben – oder, wie jetzt, zwischen einer verlassen Kate und seiner Panzerhaubitze. Die ausgewerteten Daten der Drohnen werden aus einem nahen Bauernhaus aus der gleichen Siedlung an die Feuerleitstelle weitergeleitet. Von dort kommen die Zielkoordinaten für Yuriy. „Ich weiß in der Regel nicht, auf was wir mit unserer Haubitze schießen, eine Stellung der Russen oder Fahrzeuge. Wir erhalten die Koordinaten, nur selten gibt es über die Zahl und Art der Treffer Rückmeldung.“
Für den 29-Jährigen zählt vor allem eine Zahl. Seit 13 Monaten ist er verheiratet. Seine Frau fehlt ihm, ein Leben mit Liebe und Familie anstatt eines inmitten der Zerstörung. Yuriy ist Kommandant einer Panzerhaubitze. Eine Gwosdika, sowjetisches Standart-Modell, Baujahr 1986, das dem Feind 122-Millimeter-Granaten entgegenspeit. Der Mehrtonner steht bestens getarnt unter einem Dach aus Drahtzaun, Tarnnetzen und Astwerk. Selbst aus wenigen Metern Entfernung bleibt die Stellung unsichtbar. „Vor allem aus der Luft darf die Gwosdika nicht zu sehen sein“, sagt der Soldat. Die Stellung des 29-Jährigen liegt mitten im Drohnenland. Über den Köpfen der Soldaten fliegt der Tod. Aufklärungs- und Kamikazedrohnen surren, von beiden Kriegsparteien gesendet, durch die Luft.
Erschaffen, nicht zerstören
Yuriy ist ein Mensch der erschaffen will, nicht zerstören. Mit 19 Jahren beendete er einen Kurs als Flechtwerkgestalter im westukrainischen Lwiw, dann folgten Holzgestalter-Kurse. „Während der Zeit des Maidan engagierte ich mich als Freiwilliger in Lwiw“, berichtet er. 2014 marschierten russische Truppen auf der Krim und im Donbas ein. Der Krieg begann. „Ich wollte mich freiwillig melden, es ging um mein Land, eine freie Ukraine. Aber aus gesundheitlichen Gründen wurde ich abgewiesen“, erklärt der Soldat. Da ihm das Geld für eine eigene Werkstatt als Flecht- und Holzgestalter fehlt, heuert er bei einer Sicherheitsfirma an. 2016 hört er von einer Rekrutierungsstelle, bei der die Ärzte nicht so genau hinsehen sollen. Es klappt. Yuriy wird Soldat.
Jetzt stecken ihm acht Jahre Krieg in den Knochen. Seit Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 ist er fast ununterbrochenen im Kampfgebiet im Einsatz, mit maximal zwei Wochen Urlaub pro halbem Jahr. „Dass ich meine Frau so selten sehe, das ist das Härteste für mich. Mit ihr eine Familie zu gründen, das wäre mein Traum“, erklärt er. „Ich will während der Schwangerschaft bei ihr sein, sie begleiten“, malt er eine Zukunft, die für ihn nicht greifbar ist. Ein Ende seines Diensts ist nicht in Sicht.
Stattdessen ist der Klang des Kriegs um ihn herum zu hören. Ein lauter, schneidender Knall: Eine Granate wird abgeschossen. „Unsere Nachbarn sind im Einsatz“, sagt der 29-Jährige über die ukrainischen Artillerie-Stellungen, die ihre Geschütze abfeuern. Yuriy und seine drei weiteren Crew-Mitglieder warten an der Panzerhaubitze auf ihren Schussbefehl von der Feuerleitstelle. Doch der bleibt dieses Mal aus.
Die Sonne wirft durch die Tarnung kreuz und quer Schatten auf die Gesichter der vier Männer darunter. Minuten später gibt es ein schwammiges Krachen in der Ferne zu hören. Brack, Brack, Brack. Einschläge, vermutlich die russische Antwort. Dann rattert ein Maschinengewehr, es feuert auf Drohnen. „Vor drei Tagen war hier die Hölle los“, berichtet der Panzerhaubitzen-Kommandant. Ein ganzes Dutzend Granateneinschläge, keine 50 Meter entfernt. Juri harrte mit seiner Crew im Gemüsekeller aus. Ein fensterloses Kellerloch, zu dem eine schmale Treppe hinunterführt. „Unser Bunkerersatz. Die Explosionen ließen alles erzittern. Die Wände im Keller und selbst unsere Körper“, erklärt der 29-Jährige.
Italien-Rundreise mit der Frau im Fronturlaub
Vor wenigen Wochen verreiste Yuriy mit seiner Frau bei seinem Fronturlaub. „Wir dürfen jetzt als Soldaten in unserem Urlaub aus der Ukraine ausreisen“, führt er aus. Es ging auf Italien-Rundreise. Am meisten beeindruckten den 29-Jährigen die reinen Bäche und Seen in den Alpen Südtirols. „Das war unfassbar schön. Ich will mehr in meinem Leben reisen, mehr fremde Länder sehen“, sagt er und zieht sein Smartphone aus der Hose im ukrainischen Camouflage. Mit ausgebreiteten Armen schwimmt er auf einem Foto in einem tiefblauen See. „Mein Gott, es war herrlich“, erinnert sich der junge Mann, beschreibt seine Reise durch ein Land, in dem Ruinen aus der Antike stammen und nicht von Gleitbombeneinschlägen vom Vortag. Im Blau des Himmels schwirren in Italien keine Kamikazedrohnen. Sirenen heulen nicht Tag für Tag, um vor Luftangriffen zu warnen. Ein Land im Frieden.
Es sei nicht nur einfach für ihn gewesen, fügt er nachdenklich hinzu. „Der Krieg verändert mich. Ich vermisse meine Frau und habe doch auch Angst vor jedem Heimaturlaub. Der Frieden ist ungewohnt geworden“, erklärt er. „Und so geht es wohl vielen meiner Kameraden. Die Rückkehr nach dem Krieg in ein ziviles Leben wird nicht leicht sein. Nach all den Jahren an der Front. Nach all dem Erlebten und den Verlusten.“
Manchmal stellt er sich vor, wie er im Frieden seinem Kind den Krieg erklären würde. „Ich glaube, ich werde die Worte dazu nicht finden. Ich will nur, dass es nie einen Krieg erlebt, mein Kind in einer freien Ukraine aufwächst.“ Vielleicht, denkt er laut, helfe ein Geschichtsbuch beim Erklären.
Zum Widerstand sieht Yuriy keine Alternative
Wenn nur dieser Krieg endlich Geschichte wäre. Doch in wenigen Kilometern Entfernung befinden sich schon die russischen Stellungen im Bereich des heftig umkämpften Tschassiw Jar. Tausende sind in den russisch besetzten Gebieten verschwunden, berichten Menschenrechtsorganisation und Augenzeugen. Ermordungen, Folter, Unterdrückung, Verhaftungen, Willkür der Behörden, das gehört zum System der russischen Besatzung. Zum Widerstand sieht Yuriy keine Alternative. Er und seine Frau haben ihre Wohnung in Kiew. Allein dort hat er mitbekommen, was in der umliegenden Region während der kurzen russischen Besatzung zu Beginn der Invasion Schreckliches passierte. Wie es die Menschen traumatisierte.
Dann verstummt er. Setzt den Zeigefinger auf die Lippen. Zwei Crew-Mitglieder huschen von der Wiese unter das Tarngestänge. Yuriy lauscht. Dann ist das Sirren einer Drohne zu hören. Der 29-Jährige funkt die Kommandantur an. „Eine von uns?“, fragt er. Er bekommt keine klare Antwort. Die Crew bleibt in Deckung. Dann dreht die Drohne ab, verschwindet, unter sich verlassene Dörfer und zerstörte Häuser. Yuriys Welt, der von einer Familie träumt.