Wenn die Orgel zum Sinfonieorchester wird
Der italienische Musiker Stefano Molardi beeindruckt mit seiner virtuosen und facettenreichen Interpretation ausgesuchter Werke von Johann Sebastian Bach und Franz Liszt beim jüngsten Konzert des Internationalen Orgelzyklus in der Murrhardter Stadtkirche.
Von Elisabeth Klaper
Murrhardt. Ein imposantes Musikerlebnis ist das jüngste Konzert des Internationalen Orgelzyklus. Dabei entlockt der italienische Organist Stefano Molardi der Mühleisen-Orgel in der Murrhardter Stadtkirche einige bisher so noch nie gehörte, faszinierende Klangvarianten und Effekte. Er ist begeistert von diesem außerordentlich vielseitigen Instrument: Die Mühleisen-Orgel sei sehr schön zu spielen, da sie so viele Klangfarben und Register habe wie ein Sinfonieorchester, erklärt er den zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern beim Ohrenöffner, der kurzen Einführung zum Programm.
Stefano Molardi ist Organist an der historischen Kirche Sant’ Abbondio in seiner Heimatstadt Cremona und Orgelprofessor an der Musikuniversität in Lugano, versierter Cembalist, Dirigent und Pädagoge, kurzum: Musikuniversalgelehrter. Mit außergewöhnlicher Musikalität, akribischer Präzision, lebhaften Phrasierungen, unbändiger Spielfreude und natürlicher Leichtigkeit des Musizierens interpretiert er virtuos und brillant Kompositionen von Johann Sebastian Bach und Franz Liszt.
Als ein führender Bach-Interpret hat Stefano Molardi Orgelwerke des großen Meisters auf CD eingespielt. Von seiner Expertise bekommt das Publikum einen nachdrücklichen Eindruck bei Praeludium und Fuga Es-Dur „pro Organo pleno – für volles Werk“, BWV 552. 1739 komponiert, kommt darin entsprechend der barocken Orgelspielweise das Hauptwerk mit den wichtigsten Registern und Pfeifen zum Einsatz. Aus einer komplexen Symbolik von Zahlen und Theologie für Gottvater, Sohn und Heiligen Geist schuf Bach gleichsam eine prachtvolle Hymne auf die Dreieinigkeit. Kristallklar bringt der Organist die verschiedenen Klangfarben und Charaktere in majestätischen Tuttipassagen und ornamentalen Figurationen, kunstvoll ausgearbeiteten Kadenzen und Modulationen zur Entfaltung.
Es folgen zwei Choräle aus dem dritten Teil der Klavierübung, die Molardi ideenreich mit ausgeklügelten Registrierungen als stimmungsvolle, vielschichtige Klangerlebnisse gestaltet. „Dies sind die heil’gen zehn Gebot“, BWV 678, hat festlichen Charakter, weist reiche Figurationen und spannungsvolle Modulationen auf. Dagegen wirkt „Vater unser im Himmelreich“, BWV 682, tiefgründig, ernst und schwermütig. Zur vielstimmigen, nuancenreichen Harmonik kommen chromatische Elemente und allerlei Verzierungsfiguren wie Triller hinzu.
Dramatisch-effektvoller Höhepunkt ist der als Klavierkonzert komponierte Totentanz von Franz Liszt, zugleich eine Paraphrase über das Dies irae, Searle-Verzeichnis 126. Liszt sei auf seiner italienischen Reise durch das Gemälde „Jüngstes Gericht“ des mittelalterlichen Malers Buonamico Buffalmacco auf dem Friedhof von Pisa zu dieser außerordentlich monumentalen und fantasievollen Tondichtung inspiriert worden, erzählt Stefano Molardi. Deren Leitmotiv ist das „Dies irae – Tag des Zorns“. So beginnt ein Hymnus über das Jüngste Gericht aus dem 13. Jahrhundert in einer Spätform des gregorianischen Chorals, der bis 1970 bei katholischen Totenmessen gesungen wurde. Im Verlauf des Werks erklingt dieses Motiv immer wieder in unterschiedlichen Tonlagen, wird dabei auf fast jede erdenkliche Weise variiert und auch verfremdet.
Stefano Molardi hat selbst die Transkription für die Orgel gestaltet, wobei er diese gleichsam in ein Sinfonieorchester verwandelt. Vor Virtuosität und Experimentierfreude sprühend schöpft er die Möglichkeiten der Mühleisen-Orgel voll aus, indem er auch neue, überraschende Klangfarben und Effekte kreiert. Am Anfang stehen unheimlich düstere, dramatisch aufgewühlte Klänge, schlagartig kurze, harte und dissonante Akkorde, auf- und absteigende chromatische Läufe und Glissandi, also kontinuierlich gleitende Tonveränderungen. In starkem Kontrast dazu steht das Zentrum des Werks: Idyllische romantische Phrasen und schwebende sphärische Harmonien vermitteln eine kleine akustische Vorahnung aufs himmlische Paradies. Auf prunkvoll erstrahlende Tuttipassagen folgen düster dräuende, aufgewühlte chromatische Klänge und Fanfaren und dann glitzern und funkeln höchste Töne und der Zimbelstern, ein Glockenspieleffektregister.
Mit enthusiastischem Beifall dankt das Publikum Stefano Molardi für das grandiose Konzert. Als Zugabe spielt er noch eine Improvisation, „eine Mischung aus Choral und Arie“, die mit heiter-verträumter Melodik und schwebender Rhythmik an das bekannte „Air“ von Bach erinnert.