Cold Case in Spanien aufgeklärt
Wer ist die Tote im Hühnerstall?
Tausende Mordfälle in Europa sind noch ungeklärt. Die Polizei nennt sie „Cold Cases“. Manche dieser Verbrechen liegen mehrere Jahrzehnte zurück und sind bis heute ungeklärt. Einer dieser ungewöhnlichen Fälle ist jetzt in Spanien aufgeklärt worden.

© Interpol
„Die Frau im Hühnerstall“: Bei der unbekannten Toten handelt es sich um die 33-jährige Ainoha Izaga Ibieta Lima aus Paraguay.
Von Markus Brauer/AFP/dpa
Mit der internationalen Cold-Case-Kampagne zur Identifizierung „Identify me“ von mehr als 40 in den vergangenen Jahrzehnten tot aufgefundenen Frauen hat die Europäische Polizeiorganisation Interpol mit Sitz im französischen Lyon einen weiteren Erfolg erzielt.
Eine 2018 in Spanien erhängt aufgefundene Frau konnte als die 33-jährige Ainoha Izaga Ibieta Lima aus Paraguay identifiziert werden. Sie war bislang wegen des Ortes, an dem sie entdeckt worden war, nur als „die Frau im Hühnerstall“ bekannt.
Spanish cold case resolved through international public appeal A woman who died in unexplained circumstances in Spain has been identified as 33-year-old Ainoha Izaga Ibieta Lima, from Paraguay, following INTERPOL’s #IdentifyMe appeal. pic.twitter.com/fQtTqI6O7L — INTERPOL (@INTERPOL_HQ) March 20, 2025
46 unbekannte Tote
Interpol hatte 2023 die Aktion „Identify Me“ (Identifiziere mich) gestartet. Ziel ist es, die Identität von 46 Frauen aufzuklären, die in den vergangenen Jahrzehnten tot in Europa aufgefunden worden waren.
Interpol teilt und veröffentlicht dazu bislang nur für den internen Gebrauch bestimmte Informationen über die Todesfälle, beispielsweise Fingerabdrücke, Gesichtsrekonstruktionen, DNA-Profile oder Beschreibungen der Leiche und der Kleidung.
Erste „erfolgreiche transkontinentale Identifizierung“
Die Identifizierung von Ainoha Izaga Ibieta Lima ist nun nach Angaben von Interpol die erste „erfolgreiche transkontinentale Identifizierung“ im Zuge von „Identify Me“. Die junge Frau war nach Angaben ihres Bruders im Jahr 2013 im Alter von 28 Jahren von Paraguay nach Spanien gereist. 2019 meldete der Bruder seine Schwester nach mehreren Monaten ohne Kontakt in Paraguay als vermisst.
In der Zwischenzeit war im August 2018 der leblose Körper einer Frau erhängt in einem Hühnerstall eines Bauernhofes in der nordostspanischen Provinz Girona gefunden worden. Die Frau hatte keine Papiere bei sich, niemand in der Region kannte sie oder wusste, woher sie kam. Sie konnte deswegen nicht identifiziert werden.
Zusammenarbeit der Polizei aus Spanien und Paraguay
Der Durchbruch in dem rätselhaften Fall gelang erst jüngst: Die Behörden in Paraguay glichen von Spanien hochgeladene und über Interpol geteilte Fingerabdrücke mit ihren eigenen Datenbanken ab und erzielten dabei einen Treffer.
Die Kampagne „Identify Me“ wird von Interpol zusammen mit Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien und den Niederlanden koordiniert.
Einen ersten Erfolg gab es im November 2023, als eine 1992 im belgischen Antwerpen ermordet aufgefundene Britin identifiziert werden konnte. Ihre Angehörigen hatten sich bei der Polizei gemeldet, nachdem sie in Medienberichten über „Identify Me“eine Tätowierung der Toten erkannt hatten.
Täterprofil aus dem DNA-Labor
In kriminalistischen Altfällen können Fahnder Mörder mittlerweile auch viele Jahre nach der Tat überführen, wenn die damaligen Ermittler Beweismaterial gesichert haben und sich daran heute etwa aussagekräftige DNA-Spuren finden – und man Vergleichsmaterial hat.
Cold Cases heißen diese oft Jahrzehnte lang offenen Taten. In Deutschland gibt es Schätzungen zufolge Hunderte und die Arbeit an ihnen fordert Ermittler und Justiz. Jeder Fall hat seine eigene Besonderheit und bietet von der Aktenlage oder aufgrund neuer kriminaltechnischer Möglichkeiten unter Umständen neue Perspektiven für neue Ermittlungen.
Es ist zum Beispiel nicht auszuschließen, dass an vor 50 Jahren eingelagerten Asservaten Spuren haften, die heute zu einem verwertbaren genetischen Fingerabdruck führen.
In Deutschland sind Cold Cases Ländersache
Zentral erfasst oder bearbeitet werden „Cold Cases“ laut Bundeskriminalamt nicht, weil sie Ländersache sind. Die Aufklärungsquote für Mord liegt den Polizeistatistiken zufolge seit Jahren aber bei gut 95 Prozent.
Das hieße im Umkehrschluss, wie der Wiesbadener Kriminalpsychologe Rudolf Egg einmal vorgerechnet hat: Von den bundesweit etwa 300 als Mord identifizierten Todesfällen pro Jahr, blieben 10 bis 20 ungelöst. Über die Jahre hinweg hätten sich so Hunderte angesammelt, die gar nicht erst erkannten Fälle nicht eingerechnet.
Die Polizei wäre vielleicht noch erfolgreicher, wenn sie alle Möglichkeiten beispielsweise von Künstlicher Intelligenz (KI) oder der modernen DNA-Analyse bei ihrer Arbeit nutzen könnte.
Aufgeklärt dank DNA-Analyse
Zahlreiche Cold Cases können nur dank DNA-Analysen aufgeklärt werden, sofern es Spuren gibt. Vielerorts landet die Polizei inzwischen auch nur noch dann Treffer, wenn es neue Ermittlungsansätze oder neue Verdächtige gibt.
Lange durfte in Deutschland von DNA-Spuren nur das Geschlecht bestimmt werden, aber nicht äußere Merkmale wie Augen-, Haut- und Haarfarbe und das Alter. Seit Ende 2019 ist die sogenannte Phänotypisierung nun erlaubt – quasi ein Täterprofil aus dem DNA-Labor. Doch die Phänotypisierung gibt lediglich eine Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Aussehen an, beweissicher ist sie nicht.
Löst die Polizei dennoch wieder einen Fall, so hat das juristisch teils beachtliche Folgen: Oft wird gegen die inzwischen ergrauten Männer Jugendstrafrecht angewandt, wenn sie zur Tat noch minderjährig oder heranwachsend waren. Bei sehr alten und gebrechlichen Verdächtigen stelle sich zudem häufig die Frage nach der Haftfähigkeit, denn eine Sanktion wie den Hausarrest gibt es in Deutschland nicht.
DNA-Analyse kann mehr als erlaubt
Sebastian Grün arbeitet beim Bayerischen Landeskriminalamt (LKA) in München. Um die zehn „Cold Cases“ liegen derzeit auf dem Tisch des DNA-Analytikers, die er sich je nach Dringlichkeit aktueller Fälle immer mal wieder vornimmt. Der Biologe untersucht im Auftrag der jeweiligen Ermittler nahezu täglich DNA-Spuren und nimmt bei Bedarf Phänotypisierungen vor, doch er sieht noch mehr Möglichkeiten.
„Wenn wir eine unbekannte Spur haben, die wir keiner Person zuordnen können, dann könnte die Kenntnis der biogeografischen Herkunft der Polizei dabei helfen, in eine bestimmte Richtung zu ermitteln oder eben auch nicht“, erklärt Grün.
Bislang dürfen der Biologe und seine Kollegen keine Daten zur biogeografischen Herkunft – also zu der Region, aus der die Vorfahren eines unbekannten Spurenverursachers stammen – gewinnen.
Dabei gebe es gute Gründe dafür: „Wenn man die Werte der biogeografischen Herkunft kennt, dann kann man diese Phänotypisierungswerte noch ein bisschen präzisieren. Das heißt, die Vorhersagen werden ein wenig präziser“, erklärt Grün. In anderen Ländern sei dieses Ermittlungstool erlaubt.
3000 Cold Cases in Deutschland
Etwa 3000 ungelöste Kapitalverbrechen gibt es in Deutschland. Manchmal verschwinden Menschen spurlos und Jahrzehnte später entdecken Pilzsammler oder Hunde Knochen in einem Wald.
Ob diese absichtlich vergraben wurden, können forensische Archäologen feststellen – wie Patricia van der Burgt vom Landesamt für Archäologie Dresden erklärt. „Bei Knochen im Wald oder bei der Ausgrabung von illegalen Gräbern oder Erdverstecken kann es sehr hilfreich sein, einen Archäologen hinzuzurufen. Man kommt im Prinzip sogar schneller voran und hat danach ein Ergebnis, was wirklich zum größten Teil auch gerichtsverwertbar ist.“
Forensische Archäologie bei neuen und alten Fällen
Die forensische Archäologie sei in Deutschland noch sehr unbekannt. „Das Interessante ist, dass meistens gedacht wird, jeder kann graben. Das stimmt auch, aber es hakt meistens an der Dokumentation“, erläutert van der Burgt. „Und dann hat man gegraben und ist nicht ganz so planvoll vorgegangen.“ Es gebe Spezialisten für das Graben und an diese sollten Polizisten denken, wenn sie Knochen fänden.
Forensische Archäologen könnten Antworten liefern auf Fragen wie: „Wie wurde die Grabgrube angelegt? Wurde in Eile gegraben oder wurde das Grab bereits vor der Tat angelegt? Gibt es Spuren des Täters?“
BKA setzt auch auf Fahndung per Whatsapp und Werbefläche
Neben DNA-Experten oder Archäologen setzen Cold-Case-Ermittler mittlerweile auch verstärkt auf die Öffentlichkeitsfahndung. Sie sei längst heraus aus ihrem Schattendasein, berichtet Jörg Langner, Erster Kriminalhauptkommissar im Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden. „Früher haben viele Ermittler gesagt: ‚Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gehe ich in die Öffentlichkeitsfahndung.‘ Das ist beileibe nicht mehr so.“
Warum „Aktenzeichen XY . . . Ungelöst“ so wichtig ist
Gerade im Bereich „Cold Cases“ könnten Ermittler über Medienpräsenz ältere Menschen erreichen, die zu einem lang zurückliegenden Verbrechen womöglich Hinweise hätten. Aber nicht nur Formate wie die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY . . . Ungelöst“ helfen den Ermittlern.
Seit dem Sommer 2024 nutzt das BKA bei Fahndungen auch den Messengerdienst Whatsapp, wo ein Großteil der Deutschen und damit zig Millionen Menschen erreicht werden können. Relativ neu sind Langner zufolge auch Fahndungen auf digitalen Werbeflächen etwa an Bahnhöfen. „Das macht sehr viel Druck auf den Täter und sein Umfeld.“
Deepfake-Videos als Ermittlungswerkzeug
Beim Thema Öffentlichkeitsfahndung lohnt mitunter auch ein Blick in Nachbarländer: Stichwort Deepfakes. Das sind mit Hilfe von KI erstellte Videos und Bilder, die von Kriminellen oftmals für Erpressungs- und Betrugsdelikte, Dokumentenfälschungen oder Finanzmarktmanipulationen genutzt werden. Deepfakes wirken authentisch, sind es aber nicht. Der KI-Einsatz sorgt dafür, dass die Stimme echt klingt und gesprochene Sprache und Mimik zueinanderpassen.
Auch aus polizeilicher Sicht habe diese Technik durchaus Potenzial, erklärt Jörg Langner und verweist auf ein Beispiel aus den Niederlanden. 2003 wurde in Rotterdam ein 13-Jähriger getötet. Weil die Ermittler in dem Fall jahrelang nicht weiterkamen, veröffentlichten sie 2022 ein bemerkenswertes Video: Darin sucht das Opfer scheinbar selbst seinen Mörder. Die Polizei setzte damals erstmals die Deepfake-Technik für einen Zeugenaufruf ein.
Opfer appelliert an Mitwisser und Täter
Die Ermittler produzierten das Video auf der Grundlage eines Fotos des getöteten Jungen. Man sieht den 13-Jährigen auf einem Fußballplatz im Trainingsanzug. Er geht durch ein Ehrenspalier von Familie, Freunden, Lehrern und Trainern.
Um endlich die Wahrheit zu erfahren, sei er „speziell für diesen Film zum Leben erweckt worden“, so Langner. Und dann scheint der Junge gemeinsam mit seiner Schwester an die Zuschauer zu appellieren: „Weißt du mehr? Dann sprich jetzt.“
Auch wenn diese Methode etwas bizarr anmutet: „Es ist wichtig, bei Öffentlichkeitsfahndungen eine gewisse Empathie zu erzeugen“, erklärt Langner. „Die Bevölkerung lässt sich von Gefühlen leiten. Und je mehr Empathie ich erzeugen kann, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein potenzieller Hinweisgeber meldet.“