Zeitgeschichte
Wie Kurt Werner Einsteins Rede es nach Rom schaffte
Der Kunsthistoriker Hubert Wolf forscht in den Vatikanischen Archiven zu Bittschreiben jüdischer Menschen an Papst Pius XII. Ein Artikel unserer Zeitung hat ihn mit den Nachfahren Elisabeth Einsteins zusammengeführt.
Von Almut Siefert
Hubert Wolf glaubt nicht an einen Zufall. „Das ist so etwas wie Fügung“ sagt der Kirchenhistoriker im Gespräch mit unserer Zeitung. Ende August erreichte ihn eine Mail. Kurz zuvor war in den Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung ein Artikel über die Forschungsarbeit von Wolfs Team erschienen. Seit März 2020 durchforsten sie in den Vatikanischen Archiven in Rom die Dokumente aus der Zeit des Pontifikats Pius’ XII.. Unter den geschätzt zwei Millionen Blatt Unterlagen fanden die Wissenschaftler ein Bittschreiben. Es stammt von der Jüdin Elisabeth Einstein aus Stuttgart.
Hubert Wolf forscht seit Jahrzehnten in den Archiven des Vatikan
Ausgerechnet an dem Tag, an dem der Artikel in der Zeitung steht, ist Peter Einstein, ein Enkel von Elisabeth, in Stuttgart. So erzählt es Wolf während einer Veranstaltung am Dienstagabend in der Deutschen Botschaft am Heiligen Stuhl in Rom, bei der er nach fünf Jahren einen Zwischenbericht über seine Forschungsarbeit gibt. Als Peter Einstein den Text in der Zeitung liest, erfährt er zum ersten Mal von der „römischen“ Geschichte seiner Großmutter. Er informiert seinen Bruder Michael und die beiden schreiben sofort eine Mail an Wolf. Er habe sich darüber ungeheuer gefreut, erzählt der, „weil sich damit die Wirkung unserer historischen Arbeit unmittelbar zeigt.“
Wolf, der an der Universität Münster lehrt, forscht seit Jahrzehnten in den Archiven des Vatikan. Seit fünf Jahren sind dort auch die Dokumente aus dem Pontifikat Pius XII. zugänglich, das von 1939 bis 1958 dauerte. Eigentlich wollten sich die Wissenschaftler mit der Rattenlinie, also den Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes und anderer Verbrecher beschäftigen.
Eine Mail ändert schlagartig die Forschungsarbeiten
Dieses Vorhaben legten sie aber schnell ad acta, als Wolf im Frühjahr 2020 das Schreiben von Elisabeth Einstein in den Händen hält. Die jüdische Frau, gerade einmal 40 Jahre alt, verfasste es im Mai 1940 in ihrer Wohnung im Stuttgarter Westen. „Ich wurde im Jahre 1899 als Tochter von Herrn Geheimrat Prof. Dr. Gerstmann in Stuttgart geboren, und verheiratete mich 1922 mit Herrn Leo Einstein. Wir haben drei Kinder im Alter von 17, 16 und 12 Jahren“, schreibt sie Papst Pius XII.
Ihr Mann habe im ersten Weltkrieg als Frontsoldat gedient und bis 1938 ein Geschäft geführt. Die „allgemeinen Verhältnisse“ zwangen ihn, dieses zu liquidieren, schreibt Elisabeth Einstein. Für die Auswanderung der Familie in die USA bittet die Frau den Papst um Hilfe: 209 US-Dollar für ein Ticket, das sie mit dem Schiff in Sicherheit bringen soll. Das Geld, das letztendlich vom Vatikan genehmigt wurde, hat Elisabeth Einstein nie abgerufen. Es war zu spät. Bis heute haben Wolf und sein Team in den Unterlagen rund 10 000 Bittschreiben jüdischer Menschen an den Papst gefunden. In dem Projekt „Asking the Pope for Help“ der Uni Münster werden die Bittschreiben online dokumentiert. Man wolle diesen Menschen, deren Andenken die Nazis vernichten wollten, wieder eine Stimme geben.
Die Rede eines Überlebenden des Holocausts
Kurz nachdem die Mail der Einstein-Brüder bei Wolf ankam, trafen er und seine Mitarbeiterinnen diese zu einem Zoom-Gespräch. „Michael spielte uns einen Ausschnitt einer Rede seines Vaters vor, die dieser 1988, wenige Monate vor seinem Tod in München gehalten hat“, erzählt Wolf. Die Stimme von Kurt Werner Einstein spricht auch an diesem Dienstagabend zu den Zuhörern in Rom. Er war der einzige der Familie Einstein, der die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten überlebte.
Dreieinhalb Jahre verbrachte Kurt Werner Einstein in einem Konzentrationslager, 1945 kehrte er nach Stuttgart zurück. In seiner Rede berichtet er, wie er nach dem Holocaust nur deswegen nicht den Verstand verloren habe, „weil ich nicht mit dem Finger auf andere zeigte“. Er habe verstehen wollen, warum Menschen agieren und reagieren, wie sie es tun. „Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder von uns unter den richtigen Umständen und Bedingungen zum Unterdrücker oder zum Unterdrückten werden kann“, sagt Einstein, der 1947 in die USA auswanderte, wo er 1990 starb. Seine Rede beendet er mit den Worten: „Lasst uns niemals vergessen, immer vergeben, aber vor allem verstehen.“