Zwangsweise Wohnraum beschlagnahmt

Serie „Vor 75 Jahren: Erinnerungen an das Notjahr 1947 in Murrhardt“ Es herrschte großer Mangel an allem, was die Einwohner dringend zum Überleben brauchten, von Lebensmitteln bis zu Baustoffen.

Das Amtshaus Klosterhof (aufgenommen 1950) war früher Volksschule, dann Progymnasium. Foto: Stadtarchiv

Das Amtshaus Klosterhof (aufgenommen 1950) war früher Volksschule, dann Progymnasium. Foto: Stadtarchiv

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs herrschte in ganz Deutschland und auch in der Walterichstadt immer noch große Not. Ausgebombte und Kriegswaisen, Flüchtlinge und Vertriebene sowie Heimkehrer benötigten ein Dach über dem Kopf. Die über Karten zugeteilten Lebensmittel reichten bei Weitem nicht aus, auch wegen schlechter Ernten und der Kartoffelkäferplage. Fast alle Artikel des täglichen Bedarfs, Baustoffe und Heizmaterial waren äußerst knapp. Wegen des Mangels an Rohstoffen konnten Handwerk und Industrie noch kaum arbeiten und produzieren. So war es immens schwierig, das Staats- und Gemeinwesen neu aufzubauen.

In den Gemeinderatsprotokollen von 1947 spiegeln sich die vielen Probleme der Stadt wider, vor allem die Wohnungsnot: Es war enorm schwierig, die vielen „Neubürger“ unterzubringen. Die Einwohnerzahl der Stadt war seit Kriegsende stark gestiegen: 1939 betrug sie 4731 Personen, Ende 1946 bereits über 6700. Indes gab es nur etwa 1875 Wohnungen und rund 4700 Zimmer, die durchschnittlich zehn Quadratmeter groß waren und im Schnitt 1,5 Personen bewohnten. Dringlichste Aufgabe der Stadtverwaltung war es, allen in der Stadt befindlichen Personen irgendwie ein Dach über dem Kopf zu verschaffen.

Dazu mussten verschiedene (Zwangs-) Maßnahmen ergriffen werden: Man beschlagnahmte Wohnraum, erfasste bisher nicht oder nicht zu Wohnzwecken benutzte Räume, baute Dachwohnungen aus, schob zwangsweise Evakuierte ab und verwies auf den Aufruf der Stadt Stuttgart an Ausgebombte zur Rückkehr. Doch trotz aller Bemühungen wollte „einfach niemand aus Murrhardt wegziehen“, auch war der Wohnraum bereits „nahezu restlos“ erfasst.

„Die Wohnungen sind überfüllt, die nötigsten Möbel fehlen, ebenso der Raum zur Unterbringung von mitgebrachtem Hab und Gut, Lebensmitteln und Brennmaterial. Auch die Küchenmitbenutzung wird immer ein schwieriges Problem bleiben. Durch behelfsmäßigen Einbau von Heizungen hat sich auch die Brandgefahr erhöht, und es ist öfters ein Wassermangel besonders in höheren Lagen festzustellen.“ Sorge bereiteten die gesundheitlichen Gefahren infolge des engen Zusammenlebens. Überdies erwartete man im Frühjahr 1947 weitere Flüchtlingstransporte aus Nachbarländern sowie die Rückkehr der Kriegsgefangenen.

Für 700 Schüler stehen nur acht Säle zur Verfügung

Dachstockausbauten und Neubauten fertigzustellen war aber wiederum wegen der Baumaterialknappheit überaus schwierig. „Die Ansiedlung von Fabriken und gewerblichen Betrieben würde eine weitere Beschaffung von Arbeitsmöglichkeiten bedeuten, auch wird auf die Notwendigkeit der Zuteilung von Gartenland zur Hebung der Lebensexistenz der Flüchtlinge hingewiesen.“ Die Stadtverwaltung „hat den besten Willen, die Leute unterzubringen, es sollte aber der menschenwürdigen Unterbringung (...) Rechnung getragen werden“, betonte Bürgermeister Georg Krissler. Für die Flüchtlinge gab man Bekleidung aus und einige wies man ins Haus Cornelia ein, das zum Anwesen Hohenstein (Villa Franck) gehörte.

Sorge bereiteten auch die hohe Schülerzahl und der Mangel an geeigneten Unterrichtsräumen. Laut einem Bericht des Bezirksschulrats des Kreises Backnang standen für 700 Schüler nur acht Schulsäle zur Verfügung, auch gab es keinen Raum für den Handarbeitsunterricht. Um sofort Abhilfe zu schaffen, war ein noch von Flüchtlingen besetzter Schulraum für die Gewerbeschule freizumachen. Für den Handarbeitsunterricht zog man die ebenfalls bewohnte Holzbaracke hinter dem Schulhaus in Betracht, doch richtete man dafür stattdessen laut Zeitzeugin Annemarie Meindl mithilfe eines Holzverschlags einen Raum im Stadthallenfoyer ein.

Der Saal der Neuapostolischen Kirchengemeinde sollte ebenfalls von Flüchtlingen geräumt werden für die 8. Klasse. Zwar ermöglichte es der Schichtunterricht, zwei neue Lehrerstellen einzurichten, war aber unbefriedigend wegen des Beleuchtungskörpermangels. Darum sollten Säle in Gaststätten beschlagnahmt sowie Schulsäle und Turnhallen nicht mehr als Flüchtlingsunterkünfte verwendet werden. An der Oberschule richtete man eine 6. Klasse ein, damit die Schüler in Murrhardt eine Abschlussprüfung ablegen können.

Überdies war das „Abortgebäude“, sprich die Toilettenanlage, in einem „mehr als katastrophal(en) Zustand“. Eine Besichtigung durch den Bezirksschulrat und das staatliche Gesundheitsamt Backnang „hat zu schwersten Anständen geführt“: Die Verhältnisse seien „ganz ungenügend, die Einrichtung entspricht nicht den Bedürfnissen“. Vermutlich konnten „viele Kinder die Aborte (Toiletten) gar nicht benützen“, auch seien „gesundheitliche Schäden zu befürchten“. Darum war „sofort ein neues, größeres Gebäude mit neuzeitlichen, den Verhältnissen entsprechenden“ Toiletten mit Wasserspülung zu bauen.

Im Frühjahr 1947 lagen der Stadtverwaltung über 125 Baugesuche durch Betriebe und Privatpersonen vor, Baugenehmigungen waren jedoch bei etlichen fraglich oder konnten wegen der großen Baustoffknappheit nicht erteilt werden, ausgenommen Wiederaufbauten von zerstörten Gebäuden oder wichtige gewerbliche Bauten. Wegen der akuten Bau- und Brennholzknappheit kamen Holzdiebstähle und illegale Abholzungen häufig vor. Die Zuteilung des Brennholzes aus Privatwäldern an die Stadt Stuttgart verschärfte die kritische Situation.

So kam es oft zu Verzögerungen oder zum Stillstand von Bauvorhaben. Dabei bestand auch bei öffentlichen Gebäuden dringender Handlungsbedarf. So war das Dach des Klosterschulhauses stark beschädigt, weil es durch undichte Stellen hineinregnete. Es war dringend instand zu setzen, und wegen des Schulraummangels baute man eine zweistöckige Doppelholzbaracke für vier Schulräume bei der Stadthalle. Den bisher für Gemüsegärten genutzten Sportplatz erhielt der Sportverein zurück, musste aber dessen Wiederherstellung übernehmen.

Die Pächter der Gemüsegärten entschädigte man mit Kleinparzellen vom städtischen Grundstück an der Fornsbacher Straße. Um etliche Straßen in äußerst schlechtem Zustand reparieren zu können, beschaffte die Stadt eine Straßenwalze und einen Verkehrsbulldog. Vor allem die Karlstraße war in „überaus schlechtem Zustand und muss ausgebessert werden, was erfolgt, sobald das notwendige Schottermaterial vorhanden ist“.

Ursachen und Folgen der Notsituation in Deutschland 1947

Kältewelle Auf 1. Januar 1947 vereinigte man die Besatzungszonen der USA in Süddeutschland und von Großbritannien in Norddeutschland wirtschaftlich zur Bizone. Wegen einer extremen Kältewelle mussten zeitweise 75 Prozent aller Industriebetriebe stillgelegt und viele Personen wegen Erfrierungen in Krankenhäusern behandelt werden, eine Hungerkatastrophe drohte. Nach einer Deutschlandreise setzte sich der ehemalige US-Präsident Herbert Hoover dafür ein, die wirtschaftlichen Einschränkungen aufzuheben und die Politik gegenüber Deutschland neu zu orientieren. Daraufhin erarbeitete die US-Regierung unter Präsident Harry Truman die Konzeption eines Wiederaufbauprogramms für Europa. Diese Idee einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ stellte Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 vor.

Marshallplan Angesichts der großen Not benötige Europa zusätzliche Hilfen, sonst drohe dem Kontinent der wirtschaftliche, soziale und politische Zerfall, warnte Marshall. 1948 bewilligte der US-Kongress das „European Recovery Programm“ (ERP), das als sogenannter Marshallplan bekannt geworden ist. Die Hilfsleistungen umfassten Lebensmittel, Medikamente, Rohstoffe und Sachgüter im Wert von fast 14 Milliarden Dollar, das wären heute etwa 130 Milliarden. Am 10. Juni richtete man den Wirtschaftsrat der Bizone mit der Zentralverwaltung in Frankfurt am Main ein. Bedeutende Akteure waren der spätere „Wirtschaftswunder“-Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und der in Murrhardt wohnende frühere Bankdirektor und Widerstandskämpfer Rudolf Hartmann, zuständig für das Genossenschafts- und Kreditwesen.

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Erstellt:
24. August 2022, 06:00 Uhr

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