Humanitäre Hilfe in der Ukraine
Zwei Wochen Luftalarm
Unser Autor war mit einer Hilfsorganisation im Osten der Ukraine unterwegs. Dort traf er Menschen, die ihre Heimat verloren und zurückgewannen – doch jetzt fürchten sie eine erneute Besatzung.
Von Frederik Herrmann
Luftalarm! Aus den Lautsprechern ertönt ein markantes Heulen. In der ganzen Stadt sind die Sirenen verteilt. Alle hören sie, aber niemand reagiert. Die Autos fahren weiter auf den vollen Straßen durch die Hauptstadt, die Menschen auf den Gehsteigen setzen ihren Weg unbehindert fort und die Einkaufsläden haben weiter geöffnet.
Nach drei Tagen Fahrt hat unser Konvoi Kyjiw erreicht. Wir machen nur kurz Halt, um eine Ukrainerin aussteigen zu lassen, die mit uns aus Deutschland gekommen ist. Sie ist vor dem Krieg geflohen und lebt seit zwei Jahren in Trier. Regelmäßig versucht sie, ihre Familie in der Heimat zu besuchen. Auf einem Parkplatz eines Cafés wartet ihre Mutter. Während sie sich in die Arme fallen, setzt das durchdringende Heulen der Sirenen im Hintergrund zu einer neuen Runde an – ein Geräusch, das uns in den nächsten zwei Wochen immer wieder begleiten wird.
Etwa alle zwei Stunden löst der Alarm aus. Startet eine russische Rakete und bewegt sich auf die Ukraine zu, ertönt in weiten Teilen des Landes der Alarm. Denn niemand weiß genau, wo sie einschlagen wird. „Würde ich mich jedes Mal verstecken, wenn der Alarm zu hören ist, könnte ich den Keller ja gar nicht mehr verlassen“, sagt Matthäus Wanzek. Der 41-jährige Versicherungsvermittler kennt sich gut aus in der Ukraine – in diesem Sommer ist er bereits zum fünfzehnten Mal in das Land gereist. Mit Beginn des Krieges hat er den Verein „Viele Hände für die Hoffnung“ gegründet. Seitdem fährt er regelmäßig mit Transportern voller Kleidung, medizinischer Ausrüstung und Lebensmittel in die Ukraine.
Der Ukraine fehlt es an Strom
Bevor Wanzek mit dem Sammeln von Spenden beginnt, wendet er sich an Freunde, Bekannte und Partner in den Krisengebieten, um herauszufinden, was am dringendsten benötigt wird. Im vergangenen Sommer seien es vor allem Generatoren gewesen. „Die ukrainische Stromversorgung wird immer wieder gezielt angegriffen“, erklärt Wanzek. „Viele Haushalte haben deshalb keinen Strom.“ Das treffe vor allem Kinder und Jugendliche: Denn viele Schulen in der Ukraine seien zerstört oder bieten keinen Schutz vor Angriffen, der Unterricht finde daher fast ausschließlich online statt. Ohne Strom können die Schüler jedoch nicht daran teilnehmen. Drei der vier Generatoren, die in unseren Transportern geladen sind, übergeben wir an bedürftige Familien. Ein anderer geht an eine der vielen Universitäten in Charkiw.
In Charkiw lagern unsere Spenden, in Isjum werden sie verteilt
In einer anderen universitären Einrichtung dürfen wir mehrere Tage übernachten. Wo genau, muss geheim bleiben. Denn in dem Gebäude werden viele Hilfsgüter gelagert, die an die Zivilbevölkerung verteilt werden sollen. Würde öffentlich bekannt, wo sich diese Lager befinden, bestünde ein erhöhtes Risiko für russische Angriffe, sagt Wanzek. Erst im vergangenen Jahr schlug eine Fliegerbombe nur wenige Meter von dem Gebäude entfernt ein. Die Druckwelle zerstörte zahlreiche Fenster der Universität. Jetzt schützen lediglich ein paar Holzplanken die Innenräume vor Wind und Regen. Im Ernstfall bietet nur der Keller Schutz.
Die Stadt war eines der ersten Ziele der Russen, als sie vor über zwei Jahren das Land überfielen. Während russische und ukrainische Soldaten sich heftige Straßenkämpfe lieferten, drängten sich im Keller der Universität mehr als hundert Menschen dicht an dicht zusammen und warteten darauf, dass die Erde über ihnen endlich aufhörte zu beben, erzählt mir eine Universitätsprofessorin. Die ukrainischen Streitkräfte konnten die Angreifer damals zurückdrängen. Doch in anderen Regionen waren sie unterlegen und mussten Städte und Dörfer aufgeben.
Einer dieser Orte ist Isjum. Die Stadt liegt etwa 125 Kilometer südöstlich von Charkiw, am Ufer des Siwerskyi Donez. Ende März 2022 wurde die Stadt von russischen Streitkräften erobert. Über ein halbes Jahr lang war sie besetzt. Erst im September 2022 wurde sie von ukrainischen Truppen wieder befreit.
Einheimische Helfer zeigen uns ihre zerstörte Stadt
Hier treffe ich einen Mann mit einem prominenten Namen: Volodymir Selenski. Mit dem ukrainischen Präsidenten ist er nicht verwandt. Angst im Straßenverkehr kennt er offenbar auch nicht. „I love speed drive“, ruft er, als er mit über 80 Kilometer pro Stunde durch die Innenstadt rast.
2018 gründete Volodymir Selenski die Nichtregierungsorganisation Right Direction, die sich für soziale Projekte in der Stadt einsetzt. Während die Stadt unter Beschuss stand, fuhr er immer wieder mitten durch den Bombenhagel, um Menschen zu evakuieren. Während wir nun, ein halbes Jahr später durch die Stadt fahren, zeigt er auf zerstörte Brücken, Schulgebäude und Wohnhäuser. Das seien die Gebäude, die gleich zu Beginn angegriffen wurden, erzählt er.
Heute unterstützt Volodimir Selenski diejenigen, die im Krieg alles verloren haben, verarmt sind oder deren Rente nicht ausreicht, um über die Runden zu kommen. Genau diesen Menschen wollen auch wir mit unseren Spenden aus Deutschland helfen.
Neben Hilfsgütern sammelt der Verein aus Trier auch Geld. Damit kaufen wir in der Ukraine Hygieneprodukte. Insgesamt über zwei Tonnen Seife, Waschmittel, Zahnpasta, Shampoo und Toilettenpapier. Jeweils eines dieser Produkte packen wir in eine Tüte zu einem Hilfspaket. 400 Hilfspakete laden wir schließlich in einen Transporter und bringen sie zu einem Verteilungsort in Isjum. Dort warten bereits Hunderte Menschen auf uns.
Einige von ihnen erzählen, dass sie während der Besatzung keine Unterstützung oder Rente erhalten hatten, es sei denn, sie nahmen die russische Staatsbürgerschaft an. Doch viele widersetzten sich und lebten monatelang von eingelagerten Vorräten. Auch jetzt, nach der Befreiung der Stadt, haben sie nicht viel zum Leben. Die Preise für die meisten Produkte sind stark gestiegen, ihre Renten aber weiterhin gering. „Diese Menschen sind nach wie vor auf Hilfe angewiesen“, sagt Matthäus Wanzek, der mit vielen Betroffenen vor Ort spricht. Verständigungsprobleme hat er nicht – nach diversen Fahrten in das Land spricht er mittlerweile fast fließend Ukrainisch.
Shvydchenko hat einen Angriff nur knapp überlebt
Wanzek übersetzt auch, was Tetiana Shvydchenko uns erzählt. Die 17-Jährige verantwortet Projekte für die ukrainische Organisation Right Direction und hilft den Bedürftigen in der Stadt. Als Isjum angegriffen wurde, konnte sie nicht fliehen und erfuhr, was es bedeutet, in einem besetzten Land zu leben – eine Phase, die sie als die schlimmste ihres Lebens beschreibt. „Ich dachte damals, ich werde nie wieder glücklich“, sagt sie.
Tetiana Shvydchenko spricht ruhig, kühl, fast emotionslos. Schonungslos schildert sie, was sie erlebt hat. Sie erzählt, wie sie zusammen mit ihrer Mutter zum Fluss gehen wollte. Eine russische Drohne habe sie aber entdeckt und ein Signal an einen nahestehenden Panzer gegeben. Dieser soll auf sie gefeuert haben. Wieso, das wisse sie nicht. Zwar habe die Granate die beiden Frauen verfehlt, die Druckwelle und Splitter verletzten sie aber stark. Tetiana Shvydchenko erinnert sich an Blut, viel Blut. „Dann wurde mir schwarz vor Augen, und ich verlor das Bewusstsein,“ erzählt sie.
Ein hohes Risiko
Als sie wieder zu sich kam, befand sie sich auf einem russischen Truck. Panik ergriff sie, denn sie hatte von jungen Frauen gehört, die nach Russland verschleppt worden waren und nie wieder zurückkamen. „Das wollte ich auf gar keinen Fall“, sagt sie. Trotz ihrer Angst habe sie etwas getan, das ihr Leben hätte kosten können: Sie begann, die ukrainische Nationalhymne zu singen. In einem Krieg, in dem Zivilisten oft schon für weniger ermordet wurden, war das ein Risiko, das auch direkt in den Tod hätte führen können. Doch die Soldaten brachten sie und ihre Mutter nicht um, sondern in das besetzte Krankenhaus in der Stadt.
Ihre Verletzungen seien schwer gewesen, die Überlebenschancen dagegen nur gering. Vor Ort konnte sie nicht behandelt werden. Nur eine Operation in einem Moskauer Krankenhaus konnte ihr Leben retten. Die Soldaten sollen aber wenig Interesse gezeigt haben, ihr zu helfen. Erst als Angehörige und Bekannte flehten und sie überredeten, stimmten sie zu, und Tetiana Shvydchenko sie wurde in ein Krankenhaus nach Moskau geflogen und operiert. Heute zeugen große Narben an ihrem Rücken und ihren Armen von den Verletzungen, die sie davontrug. Auch ihre Mutter überlebte den Angriff, verlor dabei jedoch beide Beine.
Heute denken sie sehr oft an Flucht
Gut behandelt wurde Tetiana Shvydchenko nicht, wie sie erzählt. Sie habe keine Schmerzmittel bekommen, und psychischer Terror sei an der Tagesordnung gewesen. Mithilfe russischer Aktivisten sei es ihr gelungen, mit ihrer Mutter nach Norwegen schließlich zu fliehen. Von dort kehrten sie nach sieben Monaten nach Isjum zurück. „Nie wieder möchte ich meine Heimat verlassen“, sagt sie entschlossen. An diesem Abend laden uns Tetiana Shvydchenko und Volodymir Selenski uns zum Essen ein. Auch ihre Freunde und Bekannten kommen vorbei. Fleisch liegt auf dem Grill, in die Gläser wird selbstgebrannter Schnaps gefüllt. Als ein ukrainischer Kampfjet über unseren Köpfen in Richtung Front fliegt, beginnen sie zu jubeln. Sie stehen hinter ihren Soldaten. Denn wenn sie nicht durchhalten, droht die nächste Besatzung der Stadt. Nachdem die Stadt im im September 2022 befreit worden war, fanden Soldaten in einem nahe gelegenen Wald Massengräber. Auf einer Infotafel ist zu lesen, dass hier 449 Leichen entdeckt wurden. Fast alle Opfer seien Zivilisten gewesen, viele mit deutlichen Folterspuren.
Zuletzt ist es laut Medienberichten nur wenige Kilometer entfernt von Isjum wieder zu schweren Kämpfen gekommen. An vielen Orten, wie der Grenzregion Kursk oder Kupjansk, Pokrowsk und Kurachowe rücken die russischen Streitkräfte weiter vor. „Der Winter wird hart“, sagt Volodymir Selenski, als ich ihn vor einigen Tagen wieder kontaktiere. Auch Tetiana Shvydchenko sorgt sich: Immer häufiger spiele sie mit dem Gedanken, aus Isjum zu fliehen .
Die nächste Hilfsfahrt plant Matthäus Wanzek und der Verein Viele Hände für die Hoffnung im Januar. Dann will er wieder mit mehreren Transportern und Unterstützern in die Ukraine fahren.
Autor Bevor Frederik Herrmann im Oktober als Volontär bei unserer Zeitung in Stuttgart angefangen hat, studierte er in Trier. Dort lernte er Matthäus Wanzek kennen, trat dem Verein Viele Hände für die Hoffnung bei und fuhr im August dieses Jahres für zwei Wochen in die Ukraine.