Zwischen Aushandelarena und Rückzugsort
Interview Das Murrhardter Jugendzentrum feiert dieses Jahr seinen 50. Geburtstag, was es zum zweitältesten selbstverwalteten Haus in Deutschland macht. Mitbegründer Titus Simon spricht über das zugehörige Buchprojekt und die Chancen offener Jugendarbeit.

© Stefan Bossow
Titus Simon hat selbst vom Engagement im Jugendzentrum profitiert. Beispielsweise hat er schon als junger Mensch gelernt, wie man Verträge mit Bands schließt, Jahresabrechnungen macht und Veranstaltungen organisiert. Foto: Stefan Bossow
Zum Jubiläum des Jugendzentrums haben sich ehemalige und heute Aktive zusammengetan, um die Geschichte in einem Buch zu erzählen und zu dokumentieren. Wie kam es zum Titel „Gratwanderung – 50 Jahre Jugendzentrum Murrhardt“?
Der Titel ist von Nicole Scheu, die im Vorstand des Jugendzentrums ist und auch das Cover gestaltet hat. Ich finde ihn gut, weil er die Ambivalenz widerspiegelt. Aus 14 Jahren als hauptamtlicher Mitarbeiter in Jugendhäusern kenne ich dieses Grundgefühl. Wenn man die Tür aufschließt, weiß man nie, was kommt. Jeder Tag kann eine Überraschung bringen. Das ist sozusagen das Gefährliche und das Spannende der offenen Jugendarbeit zugleich.
Sie sind selbst Mitbegründer des Jugendzentrums und waren dort lang engagiert. Was würden Sie sagen, wie viel nicht geregelten und geregelten Raum brauchen junge Menschen?
Murrhardt ist ja das zweitälteste selbstverwaltete Jugendzentrum in Deutschland nach dem Jugendzentrum Backnang. Das zeigt auch, dass es viele nicht mehr gibt. In den 1970er- und 80er-Jahren waren es bundesweit etliche Tausend. Viele sind zu klassischen Jugendhäusern mit festem Personal geworden. Da ist mittlerweile eine sehr gute Infrastruktur vorhanden. Das Besondere der Selbstverwaltung ist, dass sie ein Abenteuer bleibt, zumal die Generationen relativ rasch wechseln. Das, was kurze Zeit stabil ist, wird in der nächsten Generation wieder infrage gestellt oder neu verhandelt. Das Grundprinzip ist, dass die Regeln, wie das Haus funktioniert, immer wieder neu gefunden und ausgehandelt werden müssen. Ein selbstverwaltetes Jugendzentrum ist ein Stück weit ein herrschaftsfreier Raum, wobei die Realität des Lebens natürlich immer dazu führt, dass es stärkere und schwächere Akteure gibt, die die Regeln mitbestimmen.
Das heißt, das Funktionieren hängt vom Engagement der Einzelnen ab?
Man hatte das Glück, dass über die 50 Jahre hinweg überwiegend konstruktive Personen und Persönlichkeiten das Sagen hatten und das Haus nicht ins Chaos gestürzt wurde. Zudem bemühen sich die jeweils Aktiven auch immer wieder um ihren eigenen Nachwuchs. Manchmal mussten sie Schulkameraden vom Platz weg überzeugen, um am Abend für den ehrenamtlichen Vorstand zu kandidieren. Das wird auch in einzelnen Beiträgen des Buchs deutlich. Die Besonderheit ist, dass es einen hauptamtlichen Sozialarbeiter gibt, der mit von den jungen Erwachsenen des Vorstands eingestellt wird und sich formal an deren Entscheidungen halten muss. Diese Zusammenarbeit zwischen Nico Tolve, der seit 2020 Sozialarbeiter im Juze ist, und dem jetzigen Vorstand beziehungsweise den Aktiven läuft aus meiner Sicht ausgezeichnet.
Was kann ein selbstverwaltetes Jugendzentrum für junge Menschen leisten?
Aus den Beiträgen wird deutlich, dass die Persönlichkeitsentwicklung bei sehr vielen eine riesige Rolle gespielt hat. Ob das Schüchterne waren, die gelernt haben, sich stärker zu positionieren und einzubringen, oder junge Menschen, die einfach praktische Erfahrung gesammelt haben. Ich selbst habe bis zu meinem 20. Lebensjahr über offene Jugendarbeit und das Ehrenamt mehr gelernt als später im Studium. Ich habe als 20-Jähriger schon gewusst, wie man mit großen Bands Verträge schließt, eine Jahresabrechnung macht und Veranstaltungen stemmt. Das kann man dort alles lernen bis hin zu handwerklichen Arbeiten wie eine Mauer zu setzen oder eine Wand mehr oder weniger kunstvoll zu streichen.
Gemeinsamen Beschlüsse vorausgesetzt bedeutet das, man lernt auch ein Stück weit Demokratie.
Es gab immer wieder unterschiedliche Konstellationen bis hin zur Einbeziehung aller bei Abstimmungen. Solch ein Engagement verlangt, Dinge zu diskutieren, auszuhandeln und auch zu ertragen, dass man mal eine Abstimmung verliert und sich nicht durchsetzen lässt, was man sich wünscht. Man lernt, damit umzugehen. Diese Punkte werden nicht selten in den Vordergrund gestellt, aber ich halte die ganz alltagspraktischen Erfahrungen für ebenso wichtig.
Lange Zeit hatte das Jugendzentrum das Image eines politisch links geprägten Nischenangebots für nur einen Teil der Jugendlichen. Berechtigterweise?
Sobald die Räume da waren, kamen im Alltag sehr viele Jugendliche sehr unterschiedlicher Couleur ins Haus. Darunter waren sehr viele Kids aus Familien, für die das ein wichtiges Unterstützungsangebot war. Es wurde von Anfang an sehr intensive Jugendsozialarbeit gemacht. Im Vorstand gab es sicherlich immer eher, ich will nicht sagen linke, sondern eher gesellschaftskritisch eingestellte junge Menschen. Vor der Professionalisierung mit einer hauptamtlichen Kraft haben die pädagogische Arbeit zum Teil auch Praktikantinnen und Praktikanten übernommen, da waren tolle Leute dabei.
Wie hat das Jugendzentrum es geschafft, so lange zu überleben und immer wieder einer neuen Generation gerecht zu werden?
Das ist das große Geheimnis, das nicht entschlüsselt ist. Es gab immer schon Situationen, wo die jeweiligen Akteure gesagt haben, jetzt wird es schwierig, wir finden keine Leute mehr. Das Jugendzentrum ließ sich dann aber doch immer wieder auf wundersame Weise erfolgreich weiterführen. Ich denke, ganz wichtig sind positive Multiplikatoren, die vom Alter her schon der nächsten Generation angehören. Wichtig ist auch die Bereitschaft derer, die aktiv sind, sich zu öffnen beziehungsweise offen zu bleiben, sowie eine gute Zusammenarbeit von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen.
Heute ist die Jugend mit großen, um nicht zu sagen übermächtigen Problemen konfrontiert – Ökologiekrise, Demokratiekrise und Sinnkrise. Wie lässt sich über Jugendarbeit im Sinne eines selbstverwaltenden Jugendzentrums dennoch Kraft schöpfen?
Also das Jugendzentrum ist für bestimmte Gruppen immer auch ein Rückzugsraum, wo sie zur Ruhe kommen können, wo sie so sein können, wie sie sind, und sich ausprobieren können. Im Jugendzentrum Backnang gibt es zum Beispiel mittlerweile eine sogenannte queere Gruppe. Eine schwierige Zeit war Corona, aber Sozialarbeiter Nico Tolve hat trotz der Schließungen versucht, mit Jugendlichen Kontakt zu halten. Beispielsweise über Treffen in kleinen Gruppen im Freien oder den Austausch über soziale Medien. Eine wichtige Aufgabe dabei war, den ganzen Mythen und Fake News etwas entgegenzusetzen. Er hat großen Wert darauf gelegt, sachlich informiert zu sein, so weit es möglich war, um den Jugendlichen auch Antworten geben zu können, gerade in solchen krisenhaften Zeiten.
Morgen ist die Buchvorstellung mit der Lesung einiger Autorinnen und Autoren. Was kann und soll so eine Rückschau bringen?
Das Buch ist erst mal auch ein Zeitdokument. Es repräsentiert die Arbeit und Geschichte eines Projekts über fünf Jahrzehnte. Das ist im bundesweiten Vergleich eine beachtliche Leistung und war auch für die jüngeren Leute vom Vorstand spannend zu lesen. Über die Beiträge wird deutlich, dass sich Dinge wiederholen, manches aber auch völlig anders läuft, sprich es Brüche und Kontinuitäten gibt. Nicht zuletzt ist es ein spannendes, praktisches Projekt von Autorinnen und Autoren ganz verschiedenen Alters gewesen, was es zu einem generationsübergreifenden macht.
Das Gespräch führte Christine Schick.
Lesung Das Jugendzentrum Murrhardt begeht ein besonderes Jubiläum: Sein Träger wurde vor 50 Jahren gegründet. Damit ist es – nach dem Juze Backnang – das zweitälteste noch existierende selbstverwaltete Jugendzentrum der Bundesrepublik. Dies wird umfänglich gefeiert. Den Auftakt macht am Freitag, 30. Juni, um 19.30 Uhr die Vorstellung des Buchs zum Jubiläum im Murrhardter Jugendzentrum, Oetingerstraße 3. Der Eintritt ist frei. In der Zusammenarbeit zwischen zahlreichen ehemaligen und heutigen Aktiven entstand der Band „Gratwanderung – 50 Jahre Jugendzentrum Murrhardt“. Neben Texten zur Geschichte und der pädagogischen Arbeit in den jeweiligen Häusern enthält er eine besondere Chronik der Erinnerung: 55 Autorinnen und Autoren haben 51 Geschichten und Anekdoten aufgeschrieben, die den Jahren von 1973 bis 2023 zugeordnet sind. Der älteste Autor ist mittlerweile 72, der jüngste 18 Jahre alt. Der Band wurde von der Murrhardter Agentur Arcos gestaltet. Im Rahmen der Buchpräsentationen lesen neun Autorinnen und Autoren ihre Texte zu fünf Jahrzehnten Jugendzentrumsgeschichte. Gefördert wurde das Projekt von der Stadt Murrhardt, dem Rems-Murr-Kreis, der Stiftung der Kreissparkasse Waiblingen, der Jugendstiftung Baden-Württemberg und dem Verein Kubus.
Galakonzertwochenende Weitere Jubiläumsveranstaltungen sind am Freitag, 7. Juli. Um 14 Uhr lädt das Juze zum Nachmittag der offenen Tür ein, um 18 Uhr geht es mit der Juze-Gala in der Festhalle mit Sektempfang weiter, um 19 Uhr startet das Galaprogramm in der Festhalle. Der Samstag, 8. Juli, ist für Konzerte mit sechs Bands in der Festhalle reserviert.