Serie Rechtsstaat
Die Hüter des Justizviertels
Insbesondere an sogenannten Hochrisiko-Gerichtstagen sind Justizwachtmeister gefordert: Unter anderem kontrollieren sie Besucher und begleiten Inhaftierte. In der Stuttgarter Innenstadt sichern sie eine Fläche von gut anderthalb Fußballfeldern ab. Teil 1 unserer Serie: „Der Rechtsstaat lebt“
Von Franz Feyder
Stuttgarter Bereitschaftspolizisten an den Kreuzungen, die Helme mit Karabinerhaken an den Körperschutzausstattungen angehängt. Patrouillierende Justizwachtmeister auf den Gängen. Wachtmeister und Polizisten an den Rückwänden der Gerichtssäle im Landgericht: Hochrisiko-Gerichtstag im Stuttgarter Justizviertel.
In gleich zwei Sälen versuchen Richterinnen und Richter herauszufinden, was mehr als ein halbes Dutzend Angeklagte auf dem Kerbholz haben. Seit Jahren bekriegen sich in und um die Landeshauptstadt Mitglieder rivalisierender Gruppen mit Fäusten, Pistolen und Handgranaten. An diesem Tag sind in einem Saal des Gerichtes die einen, 362 Schritte entfernt in einem anderen ihre Feinde angeklagt. „Solche Verhandlungstage sind eine besondere Herausforderung“, sagt Justizwachtmeister Thorsten Klay.
Ihm und seinen Kollegen ist die Sicherheit von gleich zwei Gerichten am Rande der Stuttgarter Innenstadt anvertraut: des Oberlandesgerichts (OLG) und des Landgerichts (LG) – eine Fläche von gut anderthalb internationalen Fußballfeldern, die es zu sichern gilt.
Einstiegsgehalt von rund 3070 Euro brutto
Der „Sitzungs- und Ordnungsdienst“ obliegt bundesweit in allen Gerichten den Justizwachtmeistern. Sie gehen den Richtern während der Prozesse zur Hand: Sie kontrollieren Besucher von Gerichtsverhandlungen, begleiten inhaftierte Angeklagte aus den Vorführzellen in den Gerichtssaal und bewachen sie dort. „Unsere Wachtmeisterinnen und -meister gewährleisten die Sicherheit im Gerichtsgebäude und im Sitzungssaal. Sie sind damit unerlässlich für das Funktionieren unserer Justiz“, sagt Andreas Singer, der Präsident des Stuttgarter Oberlandesgerichts.
„Wachtl“, wie die Wachtmeister scherzhaft genannt werden, kann werden, wer eine Berufsausbildung abgeschlossen und zwei Jahre lang Erfahrung im Beruf gesammelt hat. Ihn erwartet in Baden-Württemberg ein Einstiegsgehalt von aktuell rund 3070 Euro brutto. In der Qualifizierungsmaßnahme wird der angehende Wachtmeister mindestens 18 Monate lang auf seinen neuen Beruf theoretisch und praktisch vorbereitet: Deutsch, Staats- und Strafrecht, Rhetorik und Psychologie. Dazu Praktika bei Polizei, im Gefängnis und in der sperrig „Sicherheitsgruppe der Gerichte und der Staatsanwaltschaften“ genannten SGS. Die speziell geschulten Wachtmeister der SGS gewährleisten die Sicherheit in besonders gefährlichen Prozesslagen. In Stuttgart mit seinen zahlreichen hoch konfliktträchtigen Verfahren ist dabei auch die enge Koordination mit den Polizeidienststellen zentral.
Wie am Hochrisiko-Gerichtstag mit den beiden rivalisierenden Banden in Stuttgart. „Erste Herausforderung ist, wenn die Untersuchungsgefangenen aus den Justizvollzugsanstalten (JVA) zum Prozess ins Gericht gebracht werden“, sagt Klay. Sympathisanten könnten die Transporte mit den Gefangenen blockieren. Denkbar ist aber auch, dass versucht wird, die Häftlinge zu befreien. „Deshalb müssen wir garantieren, dass die Transporter so schnell wie möglich ins Gericht kommen“, beschreibt Klay.
Durch die Katakomben des Stuttgarter Justizviertels werden inhaftierte Angeklagte zunächst in Zellen gebracht, wo sie auf den Beginn des Prozesstages warten. Wachtmeister führen sie abseits der öffentlich zugänglichen Flure durch ein Labyrinth in den Gerichtssaal. Das ist auch in der Außenstelle des OLG Stuttgart im Ortsteil Stammheim so. Hier ist nahe der JVA im April 2019 ein neues, fast 30 Millionen teures, modernes Gerichtsgebäude vor allem für Terrorverfahren fertiggestellt worden. Nur einen Steinwurf entfernt von dem geschichtsträchtigen Provisorium, in dem vor 50 Jahren die erste Generation der terroristischen „Rote Armee Fraktion“ (RAF) um Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin vor Gericht stand. Das Gebäude wird derzeit abgerissen.
In Stammheim betreuen Florian Obereicher und Theo Salm zwei Gerichtssäle, in denen aktuell gegen neun mutmaßliche Mitglieder der Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß und – ab dem 13. Februar – gegen einen Afghanen verhandelt wird, der im Juni letzten Jahres auf dem Mannheimer Marktplatz den Polizisten Rouven Laur erstochen haben soll. Obereicher, der nach acht Jahren bei der Bundeswehr Justizwachtmeister wurde, sagt: „Wir haben hier an jedem Verhandlungstag einen Hochrisiko-Gerichtstag.“
Das liegt auch am hohen öffentlichen Interesse an den Prozessen in Stammheim – zumindest an den ersten Verhandlungstagen: Journalisten reihen sich bis auf den Parkplatz, Besucher stehen Schlange. Nach drei, spätestens fünf Gerichtstagen wird das Interesse deutlich geringer. „Bei den Plädoyers zum Ende des Verfahrens kommen die Leute dann wieder“, sagt Salm. Aber auch ohne die Wachtmeister des Medienteams geht es nicht. Über ihren Computer steuern sie, dass Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Angeklagte in ihre Mikrofone sprechen können und eben auch zu verstehen sind. Vor allem aber, dass sich Verteidiger und Mandanten ungestört über die Sprechanlage miteinander austauschen können, obwohl gerade auch Zeugen vernommen werden.
Denn: Untersuchungshäftlinge verfolgen das Verfahren in einem eigenen, von hohen Glaswänden umgebenen Bereich getrennt von ihren Anwälten. Und Gespräche zwischen Anwalt und Angeklagten sind streng vertraulich. „Alle parallel in Stammheim verhandelten Verfahren werden von uns in der Anlage vorprogrammiert. So sind immer die richtigen Anwälte mit ihrem Mandanten verbunden“, erklärt Salm.
Anfeindungen werden häufiger
Zudem projizieren die Wachtmeister Fotos von Asservaten oder Dokumente auf die Bildschirme an den Seitenwänden. Sie stellen sicher, dass Zeugen überall auf der Welt per Videoübertragung vernommen werden können. Oder spielen die Audios abgehörter Telefonate ein.
Zunehmend klagen die Wachtmeister, dass sie Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt sind. „Vor allem bei Prozessen, die stark emotionalisiert sind wie die rivalisierenden Gruppen oder im Reuß-Verfahren“, sagt Klay. Kürzlich wurde eine Wachtmeisterin in Stammheim von einer Besucherin geschmäht, sie hätte halt was Anständiges lernen sollen, dann müsste sie auch niemanden drangsalieren. „Zunehmend stellen wir fest, dass man versucht, Waffen, vor allem Messer, ins Gericht zu bringen“, stellt Klay fest.
Am Ende des Hochrisiko-Gerichtstags trennen Bereitschaftspolizisten die abfahrenden Gefangenentransporter von winkenden und grölenden Sympathisanten. Die Häftlinge in den blauen Bussen winken gleich mit beiden Händen, weil sie mit Handschellen verbunden sind.