Elternzeit für Kühe und das Projekt Bruderkalb

Anja Frey aus Oberrot ist beim Ceres-Award in der Kategorie „Biolandwirt“ nominiert. Sie und ihre Familie gehen mit ihrem Milchviehbetrieb neue Wege in der Aufzucht.

Die Milch der 50 Kühe findet als Vorzugsmilch – unbehandelt, frisch wie aus dem Euter – ihren Weg in private Haushalte und Lebensmittelgeschäfte, unter anderem wird auch nach Murrhardt geliefert. Foto: T. Jaworr/agrarheute

Die Milch der 50 Kühe findet als Vorzugsmilch – unbehandelt, frisch wie aus dem Euter – ihren Weg in private Haushalte und Lebensmittelgeschäfte, unter anderem wird auch nach Murrhardt geliefert. Foto: T. Jaworr/agrarheute

Von Christine Schick

OBERROT. Als sich die Redaktion „agrarheute“ bei Anja Frey meldet, ahnt sie noch nicht, dass sie beim Ceres-Award in der Kategorie „Biolandwirt“ ziemlich weit vorne mitmischen wird. Mit ihrem Mann Pius Frey, ihrer Familie und Mitarbeitern betreibt sie den Völkleswaldhof im benachbarten Oberrot (Kreis Schwäbisch Hall) nach biologisch dynamischen Richtlinien. Dass der Demeterbetrieb nun unter den drei Anwärtern für die Auszeichnung nominiert ist, freut Anja Frey sehr und macht sie auch stolz. Die Besonderheiten des Betriebs, die auch die Wettbewerbsmacher von „agrarheute“ hervorheben, sind neben dem Direktvertrieb der Vorzugsmilch, dass die Kühe Elternzeit nehmen – die Kälber leben bei der Mutter auf der Weide – und die Freys die Initiative Bruderkalb ins Leben gerufen haben und sich nun mit weiteren Partnern für die Etablierung im Landkreis engagieren. Hinter diesem Schlagwort steckt eine Problematik, die konventionelle genauso wie Biobetriebe betrifft und Anja Frey mit der Frage umreißt: „Was passiert mit den männlichen Kälbern?“ Die Schwierigkeit besteht darin, dass für einen weiteren Kreislauf – in diesem Fall das Fleisch der Milchviehkälber oder -bullen – kein adäquater Markt besteht.

Ein erster Schritt, den der Völkleswaldhof schon vor vielen Jahren ging, war, die Kälberhaltung umzustellen – die Jungtiere dürfen die ersten drei Monate bei ihren Müttern oder Kühen bleiben, die sie als Ammen säugen. Die weiblichen Tiere haben ihre Zukunft auf dem Hof, aber auch für die männlichen wollten die Freys eine Lösung finden, erklärt die Landwirtschaftsmeisterin. Sie an einen Viehhändler zu verkaufen, der sie einem auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Mastbetrieb irgendwo in Europa liefert, war keine sonderlich gute Option. Die Familie hoffte, dass sich mit dem gestiegenen Problembewusstsein der Verbraucher neue Wege eröffnen und wurden selbst aktiv. Neben der tier- und artgerechten Aufzucht und Mast männlicher Kälber aus Biomilchbetrieben war dabei eine regionale Vermarktung mit entsprechenden Partnern das Ziel. So entstand das Projekt Bruderkalb-Initiative, das von der Bio-Musterregion Hohenlohe unterstützt wird.

Die Bio-Musterregion Hohenlohe unterstützt das Projekt Bruderkalb.

Dazu muss man wissen, dass solch eine Aufzucht höhere Kosten für den Betrieb bedeutet, vor allem weil die Kühe ihre Milch auch an den Nachwuchs abgeben. Aber das hat aus Sicht von Anja Frey nicht nur den Vorteil, dass die Jungtiere gesünder sind, sondern als Bruderkälber auch mit Blick auf ihre Entwicklung als Fleischlieferanten – anders als für Milchvieh erwartet – gut mithalten können (normalerweise setzen sie viel weniger an). Die Initiative Bruderkalb konnte mit dem Schlachthof der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft in Schwäbisch Hall einen wichtigen Partner gewinnen. Nun heißt es, mithilfe weiterer, Vertrieb und Abnahme auszubauen. Zentral dabei sei auch, dem Verbraucher die Zusammenhänge zu erklären, sodass er das Fleisch wertschätzt und bereit ist, dies in puncto Preis entsprechend zu unterstützen. Mit im Boot der Initiative sind bereits zwei Biolandhöfe und ein Demeterbetrieb, zudem gibt es weitere Interessenten.

Weil Anja Frey ihre Erfahrung in dieser Form der Kälberaufzucht in Seminaren weitergibt, weiß sie, dass bei vielen Kollegen der Wunsch besteht, sich in diese Richtung zu verändern, gleichzeitig aber auch die Unsicherheit groß ist. Letztere basiert auf Fragen zu Vermarktungschancen oder notwendigen baulichen Maßnahmen, aber auch einer langen, sozial-kulturellen Prägung dieser Art von Milchviehwirtschaft. „Da muss jeder Betrieb individuell schauen, was er wie für sich umsetzen kann.“ Anja Frey weiß, dass solch ein Vorhaben kein einfaches ist. Angefangen bei der Tatsache, dass eine Aufzucht der Kälber im Herdenverbund zunächst ungewohnt sein kann, über zu wenig Platz im Stall bis hin zu Auswirkungen im sozialen Gefüge der Betreiberfamilie. „Es kann ja sein, dass die Seniorbäuerin die Kälber versorgt hat und sich durch die Umstellung plötzlich wertlos fühlt.“ Auch das Absetzen der Kälber von der Milch kann schwierig sein, erzählt Anja Frey, einen lauten, muhenden Protest der Jungtiere nach sich ziehen und mit ihm eine Erklärung gegenüber Nachbarn notwendig machen. „Man kann das abmildern, indem man eine phasenweise, langsame Entwöhnung ermöglicht.“ Auch bei den Zweibeinern braucht es Geduld und Zeit, was einen möglichen Wandel anbelangt, denn die heutige gängige Praxis sei keine böse Absicht, sondern aus dem historischen Kontext der Nachkriegszeit und einem Mangel heraus entstanden, erläutert die Landwirtschaftsmeisterin. Damals sei es darum gegangen, möglichst viel Milch zu produzieren und die Kälber aus diesem Grund mit Ersatzprodukten aufzuziehen. Eine Umstellung braucht auch entsprechende Aufklärungsarbeit.

„Das wäre schon mein Traum, dass alle Kälber bei ihrer Mutter aufwachsen können“, sagt Anja Frey, betont aber gleichzeitig, dass sie Betriebe, die das nicht leisten könnten, nicht verurteile, ihr das nicht zustehe. Entscheidende Möglichkeiten eröffneten sich letztlich über den Verbraucher. Gleichsam hat eine artgerechte Haltung auch mit Blick auf eine kuhgebundene Aufzucht für Anja Frey den Vorteil, den Milchmarkt zu entlasten, Ähnliches gelte für den Kalbfleischmarkt. Wer den gesamten Kreislauf im Blick hat, müsse eigentlich zu dem Schluss kommen, als Milchtrinker auch Fleisch zu essen – vor dem Hintergrund eines guten Konzepts. Ein Baustein dabei ist auch die Milchviehrasse, die für die Bruderkalbaufzucht und Fleischvermarktung gleichermaßen geeignet ist. Anja Frey will langfristig auf Fleck- und Braunvieh umstellen.

Hinter dieser Vision stehen die Familie und Mitarbeiter. Anja Frey ist neben ihrer Arbeit auf dem Völkleswaldhof auf den Höhen des Schwäbisch-Fränkischen Waldes zudem im Landesvorstand von Demeter engagiert. Die ehrenamtliche politische Arbeit sieht sie als wichtige Ergänzung und Verzahnung ihrer Praxis als Landwirtin. Die Wochenenden allerdings sind der Familie und dem Auftanken vorbehalten.

Mut und Ideenreichtum

Beim Ceres-Award (Ceres ist die römische Göttin des Ackerbaus, der Fruchtbarkeit, des Wachsens und Gedeihens) wird der beste Biolandwirt 2020 aus dem deutschsprachigen Raum ermittelt. Unter den drei Finalisten sind auch Thomas Schweyer aus Weilheim und Fritz Wieninger aus Wien. Sie werden auf Facebook (www.facebook.com/ceresaward.landwirtschaft) und Instagram (www.instagram.com/ceresaward2020) vorgestellt. Die Entscheidung fällt am Donnerstag, 12. November.Zudem gibt es neun weitere Kategorien sowie einen Gesamtsieger „Landwirt des Jahres“. Entscheidend dabei sind nicht Höchstleistungen auf dem Feld oder im Stall, sondern beste wirtschaftliche Ergebnisse bei gleichzeitiger Berücksichtigung bäuerlicher Unternehmertugenden wie Mut, Ideenreichtum und Verantwortungsbewusstsein für Mensch, Tier und Natur. Weitere Infos: www.ceresaward.de/shortlist-2020.

Infos zum Hof der Familie Frey finden sich unter www.voelkleswaldhof.de und zum Projekt unter www.bruderkalb.bio.

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Erstellt:
11. November 2020, 06:00 Uhr

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