Der Kunstaktivist Harry Walter ist tot

Erst Forschung macht Kunst

Ist das Aufstellen einer These und deren Überprüfung Kunst? Harry Walter hätte aus der Frage ein Werk gemacht. Mit 70 Jahren ist der Stuttgarter Künstlerforscher gestorben.

Harry Walter 2014 am einstigen Ort der Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer im Nordbahnhof-Areal.

© Archiv/Achim Zweygarth

Harry Walter 2014 am einstigen Ort der Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer im Nordbahnhof-Areal.

Von Nikolai B. Forstbauer

Eigentlich war Harry Walter schon immer da. Das klingt auch durch, als er 2013 den „Friedlieb Ferdinand Runge-Preis für unkonventionelle Kunstvermittlung“ erhält. „Ein großer Teil der Aktivitäten, die Harry Walter in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten unternommen hat“, heißt es in der Begründung, „lässt sich als der Versuch verstehen, eine ‚Grammatik des Zeigens’ zu entwickeln, ob als Anstifter und Teilnehmer alternativer Kunstschulen und Ausstellungsräume – oder mit dem Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene“.

Von Beginn an ist das Modell ein Kernbegriff in Walters Arbeit mit und an der Kunst. Ob 1975 die von Achim Kubinski gegründete Kunstschule Weinsteige, das 1978 mit initiierte Künstlerhaus, das von Ute Meta Bauer herausgegebene Magazin „Meta“, das nach einem Dreierstart mit René Straub fortgeführte Archiv Beider Richtungen (ABR) oder seit Jahren nun das Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene (SOUP) – immer entwirft und analysiert Harry Walter die Möglichkeit eines jeweiligen Zustands. Das hat etwas Tänzelndes, behält etwas Leichtes. Schützt sich Harry Walter so auch, nicht ein Wissender zu werden, sondern ein Fragender zu bleiben? 2023 summiert sich das Beobachten in ständiger Bewegung zu einem wunderbaren Buch mit 24 Essays zu 24 Schwarz-Weiß-Fotos bundesdeutscher Wirklichkeit – „Bilder knistern“ (Schlaufen-Verlag).

Walters Lächeln konnte aber auch gefrieren. Wer darüber hinaus sehen will, ist er überzeugt, muss zunächst tief hineinschauen. So kommt Walter vor mehr als einem Jahrzehnt auch auf den eigenen früheren Wohnort: vier Hochhäuser auf einer Anhöhe am Nordbahnhof. Der Ort ist eine einstige Hinrichtungsstätte, als „Galgenbuckel“, als Ort des Mordes an dem württembergischen Finanzrat Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738. Walter fragt: Was bedeutet das Wissen um den Ort? Wer stellt dieses Wissen weiter her und stellt es wie zur Verfügung?

Abschied von Harry Walter im Künstlerhaus

„Macht einfach weiter!“ – das hat Harry Walter, wissend um seine schwere Krankheit, seinen Freunden mitgegeben. Am 19. September wäre Harry Walter 71 Jahre alt geworden, am 3. September ist er in Stuttgart gestorben. Noch einmal aber kommen Freunde und Weggefährten zusammen – am 29. September um 14 Uhr im Künstlerhaus Stuttgart (Reuchlinstraße 4b). Der Begriff des Modells wird sie weiter beschäftigen – auch und gerade mit der Frage, welche Interessen die Entwicklung eines Modells begründen und begleiten.

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Erstellt:
13. September 2024, 13:02 Uhr

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