„Es ist wichtig, auch mal zu widersprechen“

Junge Murrhardter diskutieren mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann über Rassismusprävention, das Ehrenamt, den Generationenkonflikt und den Jugendbeirat. Der 72-jährige Landesvater ermuntert dazu, Zivilcourage zu zeigen.

Kretschmann gab sich so, wie man ihn von seinen Auftritten in den Medien kennt: freundlich, leutselig, bedächtig.

Kretschmann gab sich so, wie man ihn von seinen Auftritten in den Medien kennt: freundlich, leutselig, bedächtig.

Von Annette Hohnerlein

MURRHARDT. Winfried Kretschmann stand am Freitag rund 25 Murrhardter Schülern Rede und Antwort. In einer zweistündigen Videokonferenz mit dem Titel „Sag’s Kretschmann #digital“ sprach er mit ihnen über die Themen Klimaschutz, Mobilität, digitale Bildung und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

„Ihr könnt einfach Fragen stellen. Lasst euch nicht irritieren, seid standhaft“, ermunterte Udo Wenzl die jungen Teilnehmer zu Beginn der Veranstaltung, die sein Büro organisiert hatte. Teils etwas nervös, aber sachlich und gut vorbereitet stellten die jungen Murrhardter dem Ministerpräsidenten ihre Fragen, die sie im Vorfeld der Diskussion bei einem Einführungsworkshop zusammengetragen hatten. Der 72-jährige Landesvater gab sich so, wie man ihn von seinen Auftritten in den Medien kennt: freundlich, leutselig, bedächtig. Zum Einstieg gab er einen kurzen Rückblick auf seine eigene Jugend und sein damaliges Engagement: „Ich war Schülersprecher an meinem Gymnasium und habe die Rede bei der Abifeier gehalten. Die war ziemlich aufmüpfig, der Rektor war sehr erbost.“ Später sei er in der 68er-Bewegung aktiv gewesen, habe die Grünen im Land mit gegründet und sei 1980 in den Landtag gewählt worden.

Als Erstes ging es um das Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt. Dazu hatten die Jugendlichen vorab mit acht jungen Moderatoren die Stichworte Rassismusprävention, Generationenkonflikt, Ehrenamt und Jugendbeirat zusammengetragen. Cosima L. erläuterte die Vorschläge. So sollten Präventionstage gegen Rassismus und Extremismus, wie sie das Heinrich-von-Zügel-Gymnasium regelmäßig veranstaltet, auch an anderen Schulen eingeführt werden. Zudem schlug sie vor, für alle Schüler ab Klasse 7 einen verbindlichen Erste-Hilfe-Kurs zu veranstalten. „Dann kann man helfen, anstatt nur dabeizustehen.“ Um den Austausch zwischen den Generationen zu verbessern, plädierte sie dafür, die Vereine zu fördern und das Ehrenamt attraktiver zu machen.

„Aktionen gegen Mobbing sind wichtiger als Präventionstage.“

In seinem Statement ermunterte Kretschmann die Diskussionsteilnehmer, Zivilcourage zu zeigen: „Es ist wichtig, dass man den Mut hat, hinzustehen gegen starke Persönlichkeiten und auch mal dem Lehrer zu widersprechen.“ Von Selina W. erfuhr er, dass es in ihrer Klasse durchaus Leute gibt, die problematische Inhalte lustig finden und teilen. „Wird in der Schule was gemacht gegen Mobbing?“, wollte der Ministerpräsident wissen. Das finde er wichtiger als Präventionstage.

Zum Thema Bildung in der digitalen Welt erhob Lukas L. die Forderung nach einer Bildungscloud, deren Inhalte für jeden zugänglich sind und mit deren Hilfe die Schüler selbstständig lernen können. Sascha M. forderte mehr Laptops für Schulen, die den Schülern zur Verfügung gestellt werden können – Stichwort Chancengleichheit. Lara D. plädierte dafür, die Bildungspläne zu entrümpeln. „Viele Fächer bringen einem nichts, man lernt Sachen, die man später nie wieder braucht, zum Beispiel in Kunst und Musik.“ Das mochte der Landesvater nicht so stehen lassen. „Die Fachleute sagen uns, dass wir die Hälfte der Berufe, die es in zehn Jahren geben wird, heute noch gar nicht kennen. Darauf muss man junge Menschen durch Persönlichkeitsbildung vorbereiten. Und dafür sind Kunst und Kultur ganz wichtig“.

Er räumte ein, dass eine digitale Bildungsplattform des Landes geplant war, dann aber nicht funktioniert hat. „Das haben wir bisher noch nicht geschafft. Aber dass man so etwas braucht, ist klar.“ Das Land habe 130 Millionen Euro für die Beschaffung von Schülertablets bereitgestellt und sei dabei, die Schulen mit Breitbandanschlüssen zu versorgen.

Screenshot von der Digitalkonferenz. Fotos: Staatsministerium Baden-Württemberg/Senck

Screenshot von der Digitalkonferenz. Fotos: Staatsministerium Baden-Württemberg/Senck

Nächstes Thema: Klimaschutz. Fabian K. sprach das Problem der Lebensmittel an, die täglich tonnenweise im Müll landen, obwohl sie noch essbar wären. „Kann man diese Praxis verbieten?“, lautete seine Frage. Kretschmann erwiderte, dass man beim Bundeslandwirtschaftsministerium an diesem Thema dran sei. Und er empfahl, sich nicht nur auf das Mindesthaltbarkeitsdatum zu verlassen, sondern Lebensmittel zu prüfen und dann selbst zu entscheiden, ob man sie wegschmeißt. Paul T. brachte die Umstellung auf E-Autos zur Sprache. Die Produktion der dafür benötigten Batterien sei nicht gerade umweltfreundlich. Kretschmann erwiderte, man stecke viel Geld in die Forschung, um umweltverträglichere Batterien zu entwickeln. Außerdem werde eine Kreislaufwirtschaft aufgebaut, um die teils problematischen Rohstoffe wiederzuverwenden. Dann kam Fabian K. auf die erneuerbaren Energien zu sprechen. „In den letzten Jahren sind weniger Windkraftanlagen gebaut worden, und die Kohlekraftwerke werden weiter betrieben. Das ist nicht umweltfreundlich“, so seine Ansage. Kretschmann versicherte ihm: „Wir steigen aus der Kohle aus; wie schnell das geht, müssen wir sehen. Die Wind- und Solarenergie müssen wir stark ausbauen. Dafür werden derzeit Leitungen vom Norden in den Süden gebaut.“

Als es um die Mobilität ging, klagte Ronja F. über überfüllte Schulbusse, die besonders in der derzeitigen Pandemie problematisch seien, weil man keinen Abstand untereinander halten könne. Kretschmanns Antwort: „Wir haben den Kommunen und Kreisen zehn Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um neue Busse zu kaufen.“ In diesem Zusammenhang seien die Kriterien, ab wann ein Bus als voll gilt, deutlich abgesenkt worden. Auch andere Klagen über den Nahverkehr wurden an den Ministerpräsidenten herangetragen, etwa über die schlechte Anbindung kleiner Orte. Er versicherte: „Wir streben im ganzen Land tagsüber den Einstundentakt an. Aber das ist sehr teuer, das kann man nur Schritt für Schritt machen.“ Auf das Radwegenetz angesprochen betonte Kretschmann, dass in seiner Amtszeit 440 Kilometer neue Radwege entstanden seien, unter anderem der Radschnellweg zwischen Böblingen und Stuttgart, der gut genutzt werde. Er ermunterte die Schüler, mit dem Rad zu fahren, und bemerkte schmunzelnd: „In der Zeit, in der die Schule anfängt, regnet es fast nie.“ Das habe er in den vier Jahren festgestellt, in denen er als Lehrer täglich in die Schule radelte.

Murrhardts Bürgermeister Armin Mößner stellte fest, dass viele der angesprochenen Themen auch für Murrhardt von Bedeutung seien, etwa die Verstärkung der Buslinien zu Stoßzeiten, Investitionen in den Klimaschutz, etwa bei städtischen Gebäuden, die Stärkung der Vereine und die Digitalisierung der Schulen. „Ich nehme Impulse mit“, versprach er.

Das letzte Wort hatte schließlich der Ministerpräsident. Er sagte seinen Gesprächspartnern zu, die offengebliebenen Fragen zum Beantworten an seine zuständigen Mitarbeiter weiterzugeben. Und er rief den Jugendlichen zu: „Kümmert euch weiter um diese Fragen. Ihr seid die Zukunft, ihr müsst sie gestalten.“

Die Digitalkonferenz wurde vom Staatsministerium Baden-Württemberg veranstaltet, mit der Durchführung wurde das Büro Udo Wenzl beauftragt. Eine ähnliche Veranstaltung, bei der Jugendliche Zukunftsfragen mit Kretschmann diskutieren, wird am 12. November mit Schülern aus Mannheim abgehalten.

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Erstellt:
9. November 2020, 06:00 Uhr

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