Dortmund
Tödliche Polizeischüsse auf Geflüchteten - Freisprüche
„Einpfeffern. Das volle Programm.“ Diese Anweisung fällt bei einem Polizeieinsatz in Dortmund. Kurz darauf ist ein jugendlicher Geflüchteter tot. Das Urteil in dem Fall weckt gegensätzliche Gefühle.
Von red/epd
„Justice for Mouhamed“, skandieren Dutzende im Zuschauerbereich des Landgerichts Dortmund. Sie fordern damit Gerechtigkeit für jenen 16-jährigen Geflüchteten aus dem Senegal, der im August 2022 von fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole der Polizei getroffen und getötet wurde. Gerade hat das Gericht sein Urteil gesprochen und begründet. Nach einem Jahr der Verhandlung kommt es zu dem Schluss, dass keinen der fünf angeklagten Polizisten und Polizistinnen Schuld am Tod des Jugendlichen trifft.
Die Beamten handelten, so lässt sich die Begründung des Vorsitzenden Richters Thomas Kelm zusammenfassen, weil sie Gefahr abwenden wollten: Erst die Gefahr, dass Mouhamed Dramé sich das Leben nimmt. Dann die - wenn auch bloß irrtümlicherweise angenommene Gefahr - dass er die um ihn herum postierten Polizisten angreifen wollte.
Was am 8. August 2022 in dem Innenhof einer Wohngruppe geschah, daran gebe es nach der Würdigung der Beweise keine Zweifel, stellt der Richter klar. Sowohl Funksprüche als auch ein Mitschnitt aus der Notrufleitstelle dokumentierten das Geschehen - inklusive der sechs schnell aufeinander folgenden Schüsse, von denen fünf trafen.
„Einpfeffern. Das volle Programm“
Zeugen schilderten im Wesentlichen immer wieder dieselbe Situation: Wie die Polizei eintraf, wie Mouhamed mit dem Messer auf seinen Bauch gerichtet in einer Nische lehnte, wie alle Versuche, ihn anzusprechen, ins Leere liefen. Wie sich die Beamten postierten und der Einsatzbefehl des Vorgesetzten kam: „Einpfeffern. Das volle Programm.“ Doch das Reizgas wirkt nicht so, wie erhofft: Statt das Messer fallen zu lassen, erhebt sich der Jugendliche und bewegt sich auf die Polizisten zu. Die setzen ihre Taser ein, keine Sekunde später fallen die Schüsse.
Der Fall löste in der Öffentlichkeit großes Echo aus - und warf viele auch grundsätzliche Fragen auf: Hat die Polizei ein Gewaltproblem? Offenbart das Verhalten der Beamten rassistische Strukturen bei der Polizei? Sind die Männer und Frauen an der Waffe eigentlich gut genug auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen vorbereitet?
Oberstaatsanwalt warnt vor Sterotypen
Viele hätten versucht, Mouhameds Tod politisch auszuschlachten, hatte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert in seinem Schlussplädoyer hervorgehoben: Von rechts seien widerliche Klischees von Messergewalt unter Migranten zu hören gewesen. Von links ertönten Rassismusunterstellungen pauschal gegen die Polizei, persönlich gegen die Angeklagten. Doch beides sei „absolut unzutreffend“, hielt Dombert fest.
Ursprünglich hatte er den Schützen wegen Totschlags angeklagt, seine Kollegen wegen gefährlicher Körperverletzung und den Einsatzleiter wegen Anstiftung zu dieser. Am Ende des Verfahrens änderte die Staatsanwaltschaft ihre Einschätzung: Mit Ausnahme des Einsatzleiters seien die Polizisten freizusprechen. Sie hätten annehmen müssen, angegriffen zu werden - auch wenn Mouhamed nur versucht habe, der Situation zu entkommen.
Verantwortung sahen die Ankläger allein beim Vorgesetzten: Er habe voreilig den Einsatz von Pfefferspray angeordnet und damit den fatalen Lauf der Dinge erst in Gang gesetzt. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten beantragt - unter anderem wegen fahrlässiger Tötung. Das sah das Gericht allerdings anders: „Ein sofortiger Zugriff war geboten“, so Richter Kelm.
Er sei wie sein Mandant erleichtert, dass das Gericht den „absurd hohen Maßstab bei der Bewertung einer Situation“ nicht für angezeigt hielt, sagt Michael Emde, Verteidiger des Dienstgruppenführers.
Polizisten erleichtert
Von einem angemessenen Urteil und Erleichterung bei seinem Mandanten spricht auch Christoph Krekeler, Anwalt des Schützen. Er hoffe, dass auch „diejenigen Menschen, die die Polizeiarbeit als kritisch hinterfragen“, die Feststellungen und Urteilsgründe nachvollziehen können.
Danach sieht es an diesem Tag nicht aus - nicht bei jenen polizeikritischen Aktivisten, die nach dem Prozess das „völlige Fehlen einer Verantwortungsübernahme“ kritisieren und sich „strukturelle Veränderungen“ bei der Polizei gewünscht hätten. Und erst recht nicht bei den enttäuschten Angehörigen des Getöteten.
Die Familie Dramé sei mit großen Hoffnungen in den deutschen Rechtsstaat hierhergekommen, erklärt Nebenklage-Anwältin Lisa Grüter. Dass die Tötung Mouhameds nicht geahndet werde, dass niemand die moralische Verantwortung übernehme, sei schwer zu verkraften. Die Staatsanwaltschaft selbst will nun prüfen, ob sie das Urteil anerkennt oder in Revision geht.